Eszett – Adelung gegen Heyse

21. September 2008

Was das ß betrifft, so habe ich mich an die Neuregelung angeschlossen, weil der wesentliche Vorzug des ß darin besteht, lange und kurze Vokale auseinanderzuhalten. Es würde für viele Schreiber nicht immer leicht sein, den Silbenauslaut als solchen zu erkennen und dort auch nach kurzem Vokal ß zu verwenden. Die alte Regelung hatte allerdings noch den zusätzlichen Vorteil, dass die Dreifachschreibung von sss zu vermeiden war (z. B. in Fassspund, Bassstimme). Ich habe erst etwa im Alter von 36 Jahren nach der Anschaffung einer elektronischen Schreibmaschine begonnen, ß zu schreiben, und zwar wegen der Missverständnisse, die es mit deutschen Verlagen gab, wenn diese mein schweizerisches ss inkonsequent durch ß ersetzten. Außerdem hielt ich es für notwendig, in wissenschaftlichen Arbeiten ältere Texte buchstabengetreu zu zitieren. Schließlich habe ich das ß auch in meine Handschrift übernommen.

Persönlich wäre ich gerne bei der Adelungschen Regelung geblieben, habe mich aber auf die Heysesche Regel umgestellt. Es schien mir, sie sei als Faustregel trotz Ausnahmen leichter zu handhaben; doch störten mich die Fälle von Dreifach-s. Als Grund mag auch mitgespielt haben, dass mein Computer immer alles rot unterstreicht, was nicht der Regelung von 2006 entspricht. An der schweizerischen Regel habe ich in der Zeit, als ich noch Gymnasiallehrer war und sie natürlich beachten musste, immer Anstoß genommen, weil sie die Unsicherheit in der Unterscheidung von kurzen und langen Vokalen förderte und weil die unterschiedliche Schreibung von Eigennamen nicht beachtet wurde (Beispiel: Johann Strauß, Richard Strauss).

H. T.


Sehr geehrter Herr T.,

damit Ihr Computer nicht immer alles rot unterstreicht, was nicht der Regelung von 2006 entspricht, empfehlen wir Ihnen, die Rechtschreibprüfung auf herkömmliche Rechtschreibung umzustellen. Bei Word 2007 wählen Sie dazu Office-Schaltfläche > Word-Optionen > Dokumentprüfung: Häkchen bei „Deutsch: Neue Rechtschreibung verwenden“ entfernen. Bei Word 2000: Extras > Optionen > Rechtschreibung und Grammatik: Häkchen bei „Neue deutsche Rechtschreibung“ entfernen. Bei OpenOffice.org Writer: Extras > Optionen > Spracheinstellungen > Linguistik > Optionen: Häkchen bei „Alte deutsche Rechtschreibung“ setzen.

Ich habe das ß in der (schweizerischen) Schule gelernt. Wir wurden allerdings nicht mit der korrekten Regel unterwiesen „ß, wenn ss nicht getrennt werden kann oder darf“, sondern mit „ß immer zur Bezeichnung des stimmlosen s-Lautes im Auslaut, im Inlaut nur nach langem Selbstlaut und Zwielaut, auch vor t (Georg Gubler)“. Das führt u. a. dazu, daß bei der Auflösung von ß in ss (wenn ß nicht verfügbar ist), reis-sen getrennt wird. Ich war anfangs der gleichen Meinung wie Sie, die Heysesche Regel sei einfacher und erlaube es, lange und kurze Vokale auseinanderzuhalten. Ich mußte dann aber nach und nach gegenteilige Argumente zur Kenntnis nehmen, die mich schließlich zum Umdenken bewogen. Heute ist für mich klar, daß die Adelungsche Regel der Heyseschen (die übrigens in Österreich 1879 bis 1902 schon einmal galt und sich nicht durchsetzte) weit überlegen ist; aus folgenden Gründen:

  1. Die (verkürzte) Regel „nach langem Vokal ß“ ist häufig gar nicht anwendbar (Quelle: Inge Müncher, SOK):
    1. Ausnahme: aus
    2. Die vollständige Regel lautet: Für das scharfe (stimmlose) [s] nach langem Vokal oder Diphthong schreibt man ß, wenn im Wortstamm kein weiterer Konsonant folgt. Folgt nach langem, betontem Vokal oder Diphthong und stimmlosem s-Laut ein Konsonant (t oder p), schreibt man deshalb s und nicht ß: Schuster, Trost, trösten, Wüste, Meister, meist, räuspern.
    3. Aus dem gleichen Grund ebenfalls s und nicht ß bei stimmhaftem s-Laut im Wortinnern: leise, riesig, tausend, Nase, Pause, Musik, Person, Rose, Lösung, Felsen, rasen, losen, reisen.
    4. s und nicht ß schreibt man auch nach langem, betontem Vokal oder Diphthong am Wortende, wenn der s-Laut im Plural oder in den übrigen Formen stimmhaft ist (§ 23 amtliche Regelung): Gräser – Gras, Lose – Los, blasen – er blies, Häuser – Haus, Mäuse – Maus, Preise – Preis, Ausweise – Ausweis, weisen – er wies.
  2. Auch die von 1. abgeleitete (Faust-)Regel „nach kurzem Vokal ss“ ist häufig gar nicht anwendbar (Quelle: Inge Müncher, SOK):
    1. Folgt nach kurzem, betontem Vokal und stimmlosem s-Laut ein Konsonant (t, p oder k), dann schreibt man s und nicht ss: Küste, Last, Muster, rostig, ist (sein), er knuspert, Wespe, Kasper,
      Maske, Muskel.
    2. s und nicht ss schreibt man auch, wenn nach kurzem, betontem Vokal sowohl vor als auch nach dem stimmlosen s-Laut ein oder zwei Konsonanten stehen: Herbst, Bürste, Fürst, nächst, Durst, Wulst, bersten.
    3. s statt ss auch bei Wörtern mit den Endungen -as, -nis, -is, -os oder -us: Ereignis, Finsternis, Geheimnis, Gedächtnis, Iltis, gratis, Atlas, Eros, Amos, Globus, Nimbus, Tourismus. (Diese Ausnahme führt nachweislich zu einer bedeutenden Zunahme der Fehler; Duden verzeichnet deswegen sogar Ärgerniss und Kenntniss als „falsche Schreibung“!)
    4. s statt ss überdies bei einer Reihe von einsilbigen Wörtern mit grammatischer Funktion, die einen betonten, kurzen Vokal und nachfolgenden Konsonanten haben: bis, das, des, es, plus, was, wes. In diesen Fällen wird der Konsonant gemäß amtlicher Regelung § 4,6 nicht verdoppelt, auch bei andern Konsonanten als s nicht: ab, an, in, man, mit, ob, um.
  3. Das von der Regeländerung am weitaus meisten betroffene Wörtchen daß war schon bisher eine Ausnahme zu dieser Regel der einsilbigen Wörter. Es bleibt auch in der neuen Heyseschen Regelung in der Form von dass eine Ausnahme. Man will es damit vom Relativpronomen das abgrenzen; in diesem Fall wird also an der Unterscheidungsschreibung festgehalten, die in vielen Fällen sonst aufgegeben worden ist (anders als üblicherweise in der Schweiz werden das und daß hochdeutsch ja gleich ausgesprochen). Dafür war das ß aber viel besser geeignet, wie die enorme Zunahme der Fehler heute zeigt.
  4. Die Regel „nach langem Vokal ß“ ist unzuverlässig. Die Länge der Vokale v. a. am Wortende ist nämlich gar nicht immer eindeutig und regional verschieden, durchaus nicht nur bei den Paradebeispielen die Mass/Maß, das Geschoss/Geschoß und der Spass/Spaß.
  5. Der Vorteil der Heyseschen Regel, sie bezeichne die Vokallänge, ist zu relativieren. Das ß bezeichnet ja auch in der Adelungschen Regel, sozusagen als Nebeneffekt, die Vokallänge im Wortinnern: Busse/Buße, Flosse/Floße, Masse/Maße, wo es Wörter mit unterschiedlicher Lautung und Bedeutung auseinanderhält. Hier liegt der größte Nachteil der schweizerischen ss-Schreibung.
  6. Die Heysesche Regel wird zum Teil mit der Befolgung des Stammprinzips begründet. Das erreicht sie aber nur bei wenigen Wörtern: fassen, müssen, küssen, hassen, hissen, passen, pressen, vermissen,
    wässern,
    jedoch nicht bei essen (er aß), wissen (er weiß), fressen (er fraß), lassen (sie ließ), messen (das Maß), vergessen (sie vergaß); beißen (er biss), fließen (der Fluss), schließen (das
    Schloss), gießen (der Guss), genießen (er genoss), sprießen (es spross), reißen (sie riss), schließen (das Schloss), verdrießen (der Verdruss).
  7. Das ß in der Adelungschen Regel vermeidet das häßliche Dreifach-s: Imbißstube, Schlußstrich. Allerdings haben wir in der Schweiz ohne größere Schwierigkeiten mit dem Dreifach-s zu leben gelernt.
  8. Eigennamen sind von der Regeländerung nicht betroffen. Es gibt in Deutschland allein über 50 Ortsnamen mit ß nach Adelungscher Regel von Daßwang über Heßlingen und Roßtal bis Weßling. Persönliche Eigennamen mit ß nach Adelungscher Regel gibt es natürlich noch viel mehr, so auch die Litfaßsäule. Das Durcheinander wurde mit der Heyseschen Regel also vergrößert (denn zugegeben: Ausnahmen wie Günter Grass und Richard Strauss gab es auch bisher, aber viel weniger).

Peter Müller, SOK