Stefan Stirnemann: Zur Lage der Schule

Die neue Rechtschreibung erschwert den Zugang zu den Texten. Viele Sätze sind auch nach zwei- oder dreimaligem Lesen unklar. Schuld sind vor allem die Veränderungen in den Bereichen: Getrenntschreibung (wohlbekannt), Beziehung Laut-Buchstabe (greulich), Satzzeichen (Weglassen vieler Kommas). Auch die vermehrte Grossschreibung schafft Unsicherheit, da nun Gleiches ungleich behandelt wird (von vornherein, zum Vornherein).

Die Presse hat von Anfang an nicht alles mitgemacht, schreibt also seit Reformbeginn (1996) anders als die Schule. Das gilt vor allem für die Kernbereiche der Zeichensetzung und Getrenntschreibung, aber auch für die vermehrte Grossschreibung.

1 Zeichensetzung

Peter Gallmann, führender Schweizer Reformer, hat 1997 Walter Heuers schönes Buch „Richtiges Deutsch“ auf Reform umgestellt. In diesem Buch, das in erster Linie für publizistisch Tätige gedacht ist, empfiehlt er die nichtreformierte Zeichensetzung:

„Redaktion und Korrektorat sollen auch in Zukunft von der Möglichkeit Gebrauch machen, zwischen Hauptsätzen, die mit und, oder verbunden sind, ein Komma zu setzen. Dies gilt etwa für lange Sätze und keineswegs nur für krasse Fälle wie die folgenden, die ohne Komma kaum zu lesen sind:

‚Ich fotografierte die Berge, und meine Frau lag in der Sonne.“‘ (1548)

„Die neue amtliche Regelung von 1996 gibt die Kommasetzung bei Infinitivgruppen mit zu weitgehend frei. Für die grafische Industrie, vor allem die Zeitungs- und die Zeitschriftenherstellung, wo aus Quellen unterschiedlichster Herkunft ein sprachlich sauberes und einheitliches Produkt hergestellt werden soll, dürfte diese Lösung aber wenig praktikabel sein. Wir schlagen daher eine Regelung vor, die sich am bisherigen Schreibgebrauch orientiert.“ (1567)

Der Rat für deutsche Rechtschreibung hat hier manches (wenn auch nicht alles) im Sinne des bisherigen Schreibgebrauches verbessert, aber in unseren Schulen werden diese Verbesserungen nicht weitergegeben.

Beispiel: Im neuen Handbuch für den Unterricht (2007) lehren Thomas Lindauer und Claudia Schmellentin, Mitglieder im Rat für deutsche Rechtschreibung, man könne folgendes Doppelkomma weglassen: Olga hat die Idee, schnell ein Bier zu trinken, stets behagt. Das entspricht nicht der Doktrin des Rates für deutsche Rechtschreibung.

Lindauer und Schmellentin sind Schüler und Mitarbeiter Peter Gallmanns; ihr Vorgehen zeigt, dass die Reformer unabhängig von der Lesbarkeit der Texte möglichst viel von ihrer Reform retten wollen.

2 Vermehrte Grossschreibung

Es entspricht altem Schreibgebrauch, feste Wendungen wie von neuem, seit langem, im allgemeinen klein zu schreiben. Die Reform hat in vielen (wenn auch nicht in allen) Fällen den grossen Buchstaben wiedereingeführt, der im 19. Jahrhundert üblich war. Bis 2004 war bei 14 Fällen nur der kleine Buchstabe richtig (von neuem, seit langem, ohne weiteres), seit 2004 ist auch der grosse Buchstabe möglich, und in der Schule soll nur die Grossschreibung vermittelt werden, wie es in der entsprechenden Handreichung der EDK heisst. Auch sie ist von Lindauer und Schmellentin verfasst worden. Die Schweizer Presse macht diese Grossschreibung mehrheitlich nicht mit.

3 Getrenntschreibung

Auch hier soll unsere Schule möglichst auf Reformkurs 96 gehalten werden; es soll möglichst viel getrennt werden. Im Schweizer Schülerduden, herausgegeben von Peter Gallmann und Thomas Lindauer, wird empfohlen, dass auch dort, wo der Rat für deutsche Rechtschreibung die Zusammenschreibung (als Variante) wieder möglich gemacht hat, die Getrenntschreibung vorzuziehen sei, „da sie dem Normalfall entspricht“. So hält der Schweizer Schülerduden an der 96er Trennung von wieder sehen fest, die der Duden bereits 2000 wieder aufgegeben hat.

Fazit

Es besteht seit Reformbeginn eine Kluft zwischen Schweizer Schule und Schweizer Presse. Sie ist mit dem Regelwerk des Rates für deutsche Rechtschreibung nicht kleiner geworden. Wollte man diese Kluft im Sinne der Schweizer Reformer schliessen, müsste die Presse weitgehend nach Reform 96 schreiben. Das ist undenkbar, da die Presse existenziell der Lesbarkeit und Sprachrichtigkeit verpflichtet ist.

Auch für die Schule müssen Lesbarkeit und Sprachrichtigkeit der Massstab sein. Mit den Empfehlungen der SOK ist dieser Massstab wieder gegeben. Deswegen werden sie aus der Geschäftsleitung des LCH (Votum Strittmatter) und vom grossen deutschen Schulbuch­verleger Michael Klett unterstützt.