26. November 2007
Ich arbeite an einer Geschichte zum schleichenden Wegfall des scharfen s aus der bundesdeutschen Schriftsprache. Vermehrt wird auch hierzulande – und zwar gegen die Rechtschreibreform – das ß durch doppeltes s ersetzt, so vor Diphthongen (z. B. Werbung eines Baumarktes: „Rabatt auf alles – ausser Tiernahrung“ man verschickt freundliche Grüsse und wohnt in der Poststrasse usw.).
Die Schweiz verzichtet ja schon länger auf das scharfe s, richtig?
Sind Sie so nett und erteilen mir für meine Recherche Informationen, warum und seit wann das ß bei Ihnen keine Rolle mehr spielt?
Ph. K.
Sehr geehrter Herr K.,
eine der Neuerungen der Rechtschreibreform ist die Umstellung der Eszett-Schreibung von der Adelungschen auf die Heysesche Regel. Nach Adelung wird das Eszett zur Kennzeichnung des stimmlosen s (Muße) gesetzt, um es vom stimmhaften zu unterscheiden (Muse), für die Kennzeichnung des Wort- oder Stammendes, wo es in Zusammensetzungen wie Mißstand eine besondere Funktion hat, sowie im Inlaut nach langen Vokalen und Diphthongen. Nach Heyse wird das Eszett nur nach langen Vokalen und nach Diphthongen gesetzt (Straße, beißen).
Die Heysesche Eszett-Regel vermindert die Zahl der Eszett stark. Es ist deshalb anzunehmen, daß damit der generelle Ersatz des Eszett durch ein Doppel-s gefördert wird. Die Erwartung der Reformer, daß die Heysesche Regel zu weniger Fehlern führen werde, wird damit offensichtlich nicht erfüllt. Auffällig ist besonders die Zunahme der Verwechslung von das und dass. Die Heysesche Regel ist im 19. Jahrhundert in Österreich schon einmal eingeführt und nach einer Probezeit wieder verworfen worden, da sie sich offensichtlich nicht bewährte.
Die Adelungsche Regel ist lesefreundlicher als die Heysesche. Diese ist immerhin noch lesefreundlicher als die schweizerische Praxis, überhaupt kein Eszett zu setzen.
Die Entwicklung in der Schweiz
Wie in Deutschland kannten die frühen Antiquadrucke in der Schweiz kein Eszett, obwohl die Zweite Orthographische Konferenz von 1901 es auch für Antiqua zwingend vorschrieb. Der Beschluss wurde in Deutschland nach und nach umgesetzt, in der Schweiz (und in Liechtenstein) aber nie durchgängig. Das Schweizerische Bundesblatt führte es nach der Umstellung von Fraktur auf Antiqua 1873 etwas später zwar ein, hob es aber mit der Ausgabe vom 21. März 1906 wieder auf.
Seit Beginn des 20. Jahrhunderts wurde das Eszett in der Schweiz mehr und mehr durch ein Doppel-s ersetzt. Die Kantone begannen in den späten dreißiger Jahren, das Eszett nicht mehr zu lehren, der bevölkerungsreichste, häufig als Vorbild dienende Kanton Zürich ab dem 1. Januar 1938. Offiziell abgeschafft wurde das Zeichen aber nie. Am 4. November 1974 stellte auch die Neue Zürcher Zeitung (NZZ) als letzte der Schweizer Zeitungen auf Doppel-s um.
Der damalige Chefkorrektor der NZZ, Max Flückiger, schrieb in einer internen Weisung:
„Mit Stichtag Sonntag, 3. November 1974, lassen wir den Buchstaben ß fallen und setzen an seiner Stelle zwei s. Der Grund für diese Maßnahme liegt darin,
- daß der Buchstabe ß in der Schweiz in den Schulen schon lange nicht mehr gelehrt wird und deshalb Automatik und Korrektorenabteilung die Ausbildung von neu eintretenden Angestellten übernehmen mußten,
- daß Agenturen und Korrespondenten uns fast nur noch mit Texten ohne ß beliefern,
- daß der Leser den Buchstaben ß kaum vermissen wird und
- daß bei zunehmender Computerisierung dieser Schritt später doch getan werden müßte.“
Und zum Schluß: „Dem Hinschied des ß werden zünftige Schwarzkünstler wohl ein paar symbolische Tränen nachweinen – auch ich. Trotzdem bitte ich, den Trauerfall nicht zu tragisch zu nehmen, dafür die Aufmerksamkeit, die bis jetzt der Pflege des ß geschenkt wurde, auf die Pflege anderer, vielleicht wichtigerer sprachlicher Dinge zu richten.“
Trotz des Ersatzes des Eszett durch ein Doppel-s wurde in der Regel aber in einem Fall ein Unterschied beachtet: Beim Zusammentreffen von drei s mit folgendem Vokal wurden alle drei s geschrieben (Kongresssaal), im Gegensatz zu andern Konsonanten (Schiffahrt). Bei der Silbentrennung hingegen wurde die alte Regel, daß beim Ersatz des Eszett durch Doppel-s beide s auf die nächste Zeile zu schreiben sind (Blö-sse in Analogie zu Blö-ße), nie angewendet (sondern Blös-se getrennt). Beides hat seit der Rechtschreibreform von 1996 keine Bedeutung mehr: drei Konsonanten werden ohnehin in jedem Fall geschrieben, und das durch Ersatz des Eszett entstandene Doppel-s kann getrennt werden.
Heute wird das Eszett nur noch von den Schweizer Buchverlagen verwendet, da sie ihre Produkte auch in Deutschland und Österreich absetzen wollen. Optimisten glauben in der neuerdings in SMS-Texten zu beobachtenden Verwendung des Eszett eine Wiedergeburt des Zeichens in der Schweiz zu erkennen. Diese Verwendung hat aber mit größter Wahrscheinlichkeit lediglich mit der in den Mobiltelefonen enthaltenen Schreibhilfe zu tun, die ein Wort vorschlägt, auch wenn es noch nicht zu Ende geschrieben ist (z. B. erscheint nach Grus Gruß). Die SMS-Schreiber, die von den Eszett-Regeln normalerweise keine Ahnung haben, akzeptieren das Eszett gerne, weil es im ohnehin knappen Raum der SMS einen Buchstaben einspart. Eine Wiedereinführung des Eszett in der Schweiz dürfte jedenfalls vollkommen unrealistisch sein. Auch gebildete Schweizer kennen die Eszett-Regeln nicht, obwohl sie durch die Lektüre von Büchern und deutschen Zeitschriften durchaus an das Zeichen gewöhnt sind.
Mutmaßungen über die Gründe
Mutmaßungen über die Gründe für die Abschaffung des Eszett in der Schweiz (und in Liechtenstein) gibt es viele. Schlüssig erforscht ist das Thema offensichtlich nicht.
Die meistgenannten Gründe sind:
- Schweizer Einheitstastatur für Schreibmaschinen
Mit der Einführung der Schweizer Einheitstastatur für Schreibmaschinen in den dreißiger Jahren mußten die Zeichen àéè und ç auf der Tastatur untergebracht werden. Dem ç fiel das Eszett, das ohnehin nicht mehr systematisch verwendet wurde, zum Opfer (den àéè die Versalumlaute ÄÖÜ).
- andersartige Phonologie der schweizerdeutschen Dialekte
Peter Gallmann führt das Verschwinden des Eszett auf die andersartige Phonologie der schweizerdeutschen Dialekte zurück. Das Doppel-s, das Eszett ersetzt, sei in der Schweiz ein Silbengelenk, gehöre also anders als in Deutschland zu beiden Silben: „Die Schreibung mit Doppel-s nach Langvokal und Diphthong entspricht der Syllabierung in den schweizerdeutschen Dialekten bzw. in der schweizerisch gefärbten Standardsprache: Fortis-/s/ ist auch nach Langvokalen und Diphthongen Silbengelenk, das heißt, es wird ambisyllabisch realisiert. Die Korrespondenz /s.s/ → ‹ss› stimmt daher gut zur besonderen schweizerischen Sprachsituation; eine Anpassung an die Verhältnisse im übrigen deutschen Sprachraum ist nicht zu erwarten“ (siehe hier).
- frühere Verbreitung der Antiqua-Schriften in der Schweiz
Manche Autoren vermuten, daß die im Unterschied zu Deutschland frühere Verbreitung der Antiqua- statt der Frakturschriften in der Schweiz zum Verschwinden des Eszett geführt habe. Das Eszett geht auf eine Ligatur der Frakturschrift zurück, und Antiquaschriften hatten ursprünglich kein Eszett. Gallmann hält dem entgegen, daß das Eszett seit dem Ende des 19. Jahrhunderts auch in Antiquaschriften etabliert war und in der Buchproduktion auch verwendet wurde. Darüber hinaus wurden Zeitungen in der Schweiz länger als in Deutschland, nämlich bis Ende der vierziger Jahre dieses Jahrhunderts, in Fraktur und damit auch mit Eszett gesetzt. In Deutschland verbot Hitler am 3. Januar 1941 die als „Schwabacher Judenlettern“ gebrandmarkte Fraktur.
- Abgrenzung zu Nazideutschland
Schließlich gibt es auch noch Stimmen, die hinter dem Verschwinden des Eszett in der Schweiz eine Abgrenzbewegung gegenüber dem aufkommenden Nationalsozialismus in Deutschland vermuten. Gegen diese Annahme spricht allerdings, daß der Ersatz des Eszett durch ein Doppel-s in der Schweiz schon früher, bereits zu Beginn des 19. Jahrhunderts, einsetzte und dass ausgerechnet die NSDAP in ihrem Schriftverkehr die ss-Schreibung praktizierte.
Fazit: In Wirklichkeit hat vermutlich nicht ein einzelner Grund, sondern eine Kombination von Gründen zum Verschwinden des Eszett in der Schweiz geführt.
Peter Müller, SOK