11. Juni 2009
Die einzig vernünftige Rechtschreibreform wäre die Kleinschreibung gewesen. Sie hätte für die Schüler eine wirkliche Erleichterung gebracht.
H.-R. O.
Sehr geehrter Herr O.,
die gemässigte Kleinschreibung hätte gegenüber der aktuellen Rechtschreibreform in der Tat den Vorteil, für die Schüler und Wenigschreiber eine Erleichterung zu bringen1 – ein Versprechen, das die Rechtschreibreform bekanntlich in keiner Weise eingelöst hat.
Aber die Forderung nach gemässigter Kleinschreibung beruht auf dem gleichen fatalen Denkfehler wie die „neue“ Rechtschreibung: sie nimmt zugunsten der – anders als bei der Rechtschreibreform wenigstens tatsächlichen – Erleichterung für Schüler dafür Erschwernisse für die (ungleich zahlreicheren) Leser in Kauf und beschneidet die Ausdrucksmöglichkeiten für Normalschreiber.
Von Verfechtern der gemässigten Kleinschreibung wird immer wieder auf andere europäische Sprachen verwiesen, die ohne Grossschreibung der Substantive auskommen. Das taugt nicht als Beweis ihrer Überflüssigkeit. Erstens ist es groteskerweise durchaus möglich, dass eine Sprachgemeinschaft ihre eigene Sprache mutwillig beschädigt, wie das Beispiel der deutschen Rechtschreibreform eindrücklich beweist. Zweitens unterscheiden sich diese Sprachen trotz ihrer Verwandtschaft wesentlich vom Deutschen. So haben sie „keinen auch nur […] annähernden Grad von synthetischem Satzbau, von Attributhäufungen oder ausserwortbildungsmässigen Transpositionsmöglichkeiten, geschweige denn eine Kombination all dieser Strukturelemente.“ (Prof. Rudolf Hotzenköcherle, 1955, Grossschreibung oder Kleinschreibung? Bausteine zu einem selbständigen Urteil. Der Deutschunterricht 7, 30-49) „Im Französischen z. B. wird fast immer das Substantiv zuerst genannt, das erst anschliessend durch Attribute erweitert wird: une voiture comfortable et vite. Der Leser erfährt also zunächst, dass es sich im Beispiel um ein Auto handelt und bekommt anschliessend die beschreibenden Erläuterungen geliefert – der Kern ist von vornherein bestimmbar. Im Deutschen erfolgt dies in genau umgekehrter Vorgehensweise: Zunächst erhält man die Beschreibungen, die erst am Ende der Nominalgruppe auf den eigentlichen Kern bezogen werden: ein neues, schickes, blaues, schnelles Auto. Im Englischen ist die Wortfolge streng nach dem Subjekt-Prädikat-Objekt-Prinzip organisiert. Die Flexibilität des deutschen Satzbaus ist demgegenüber erheblich höher. Genau aus diesem Grund scheint es sinnvoll, dass im Deutschen der Kern dieser beweglichen Elemente, der Nominalgruppen, formal durch einen die visuelle Gliederung begünstigenden Grossbuchstaben ausgezeichnet wird.“ (Hartmut Günther und Ellen Nünke, Kölner Beiträge zur Sprachdidaktik, 1-2005, Warum das Kleine gross geschrieben wird)
Ob die Grossschreibung der Substantive eine Lesehilfe ist oder nicht, ist in zahlreichen Untersuchungen überprüft worden. Nochmals Günther-Nünke: „Es ist deshalb wichtig zu klären, ob die Grossschreibung den Lesevorgang tatsächlich erleichtert. Es könnte ja auch sein, dass es nur die Macht der Gewohnheit ist, die uns zu dieser Annahme gelangen lässt. Im Hinblick auf diese Fragestellung erlangen einige experimentelle Studien besondere Bedeutung, die eben dieses zu überprüfen versuchten, vgl. u. a. Bock, Hagenschneider & Schweer (1989) sowie Gfroerer, Günther & Bock (1989). Um den Faktor der ,Gewohnheit’ auszuschliessen, waren die wichtigsten Versuchspersonen nicht Deutsche, sondern deutschkundige Niederländer, die zwar aufgrund ihrer Sprachkenntnisse auch die deutsche Schreibung kennen, aber Lesen im Niederländischen gelernt haben; hier werden nur Satzanfänge und Eigennamen grossgeschrieben.
Die Untersuchungen brachten überraschende Ergebnisse: Auch für die niederländischen Versuchspersonen stellten die Regeln der deutschen Grossschreibung eine Hilfestellung dar, die den Leseprozess beschleunigten. Sie konnten Texte in ihrer eigenen Muttersprache (!) mit den fremden satzinternen Grossbuchstaben ohne Verständnisprobleme schneller lesen als solche mit der ihnen vertrauten gemässigten Kleinschreibung. Detailanalysen der Augenbewegungsmuster liessen den Schluss zu, dass in der Tat der Orientierungscharakter der Grossbuchstaben dafür verantwortlich war (Gfroerer et al. 1989).“
Populäre Beispiele für Missverständnisse bei gemässigter Kleinschreibung sind „der gefangene floh“, „helft den hungernden vögeln“ und „in Moskau hat er liebe genossen“. Obwohl reine Witzbeispiele, zeigen sie den Kern des Problems. Ernsthafter setzte sich der frühere Doyen der schweizerischen Chefkorrektoren, Walter Heuer (NZZ), mit dem Thema auseinander. Er wies darauf hin, dass die Missverständnisse zahlreicher wären, „als die Freunde der Kleinschreibung zugeben; das kann keinem entgehen, der unsere heutige Schriftsprache daraufhin untersucht. Da ist einmal die so beliebte Inversion von regierendem Substantiv und Genitivattribut, die bei Kleinschreibung den Leser irreführen würde in Beispielen wie: der treue lohn (der Treue Lohn), der mächtigen gunst (der Mächtigen Gunst), der weisen führung (der Weisen Führung), der besten Eingebung (der Besten Eingebung). Gottfried Keller hätte, wenn Kleinschreibung zu seiner Zeit Gesetz gewesen wäre, niemals schreiben dürfen: Fürwahr! Ich kaum ein Erdenvölklein wüsste, das nicht zerstöbe wie der wüste sand … (der Wüste Sand).
Walter Heuer weiter:
„Ein viel gewichtigeres Hindernis bilden jedoch die im heutigen Deutsch so häufigen Substantivierungen aller Art. Allen voran sind hier die substantivierten Adjektive und Partizipien zu nennen, die in manchen Fällen als Attribute nachfolgender – wirklicher oder vermeintlicher – Substantive verkannt würden. Dafür nur einige von vielen Beispielen aus unserer Praxis:
Es galt für selbstverständlich, dass ein über ein buch gebeugter geistlicher lektüre oblag.
- (ein über ein Buch Gebeugter geistlicher Lektüre oblag)
Neben der öffentlichen hand stehe es aber auch dem privaten an, in der dorfgemeinschaft das schöne, das edle und das geistlich-sittliche leben fördern zu helfen.
- (das Schöne, das Edle und das geistlich-sittliche Leben)
Hier ist er als konservativer liberaler und als liberaler konservativer als sein gegenspieler.
- (ist er als Konservativer liberaler und als Liberaler konservativer)
Sie musste feststellen, dass ein farbiger besitzer ihres hauses geworden war.
- (ein Farbiger Besitzer ihres Hauses geworden war)
Judas erhängt sich nach qualvollen, grüblerischen nächten, von allen, zuletzt auch von seiner geliebten Lea, verabscheut.
- (seiner geliebten Lea oder seiner Geliebten Lea? Das wäre doch wohl ein kleiner Unterschied!)
In der bibel ist von leuten die rede, die dem irdischen leben und dem jenseits nicht viel nachfragen.
- (die dem Irdischen leben).“
(Walter Heuer, Graphia, 1956, Die „gemässigte“ Kleinschreibung [in Schweizer ss-Schreibung und bereinigt um die übrigen, damals diskutierten reformierten Schreibweisen wie Eliminierung der Dehnungszeichen])
Heuer weist zudem zu Recht auf einen anderen Grund hin, der zu erschwertem Lesen bei gemässigter Kleinschreibung führt, und zitiert den Philologen und Mitgründer des Goethe-Instituts Franz Thierfelder:
„,Je weniger Ober- und Unterlängen ein Schriftsystem besitzt, um so schwieriger wird das Lesen. Das Auge ermüdet rascher, wenn es sich nicht an die über und unter das Zeilenband herausragenden Buchstabenteile klammern kann.’ […] Was Dr. Thierfelder hier über die optische Wirkung des Schriftbildes sagt, kann jeder von uns aus eigener Erfahrung bestätigen. Erinnern wir uns doch noch sehr gut der Zeit, als der Versaliensatz in der Typographie grosse Mode war. Ganze Geschäftskarten, Inserate, Programme usw. wurden in Versalien gesetzt. Das war aber eine kurzlebige Mode, und mit Recht: Spätestens bei der dritten Versalzeile hört nämlich der Leser auf und legt das Blatt beiseite.
Warum aber sind Versalzeilen so viel schwerer zu lesen? Bestimmt nicht, weil der einzelne Grossbuchstabe ein weniger klares und einprägsames Bild hätte als der entsprechende Kleinbuchstabe. Nein, der Grund liegt im vollständigen Fehlen der über und unter das Zeilenband herausragenden Haltepunkte, deren das Auge zum leichten Erfassen der Wortbilder bedarf. Zugegeben: die vorgeschlagene Kleinschreibung wirkt bei weitem nicht so krass wie der reine Versaliensatz; aber sie bedeutet doch einen grossen Schritt in dieser Richtung.“
Die aktuellen Reformer sind samt und sonders Anhänger der gemässigten Kleinschreibung. Die Politik, bei denen sie sich nach eigener Aussage „den Auftrag für die Reform holten“, bedeutete ihnen aber zum vornherein, davon die Finger zu lassen. Darauf haben sie uns (aus Trotz?) die antiquierte vermehrte Grossschreibung aus der Biedermeierzeit aufgehalst. Das wird nicht Bestand haben. Aber auch die gemässigte Kleinschreibung ist aus all den hier angeführten Gründen keine Lösung und ohnehin chancenlos. Die Lösung besteht nach Ansicht der SOK in der modernen Orthographie, wie wir sie bis 1996 mit der Grossschreibung nur der echten Substantive hatten, selbst wenn dabei einige Abgrenzungsprobleme zwischen echten und unechten Substantiven in Kauf zu nehmen sind – Abgrenzungsprobleme, die es übrigens trotz gemässigter Kleinschreibung bei Namen weiterhin gäbe (erste / Erste Hilfe).
Peter Müller, SOK
1 Selbst diese Erleichterung ist nicht gesichert. Wolfgang Wrase widerspricht auf der FDS-Website: „Es würden Zweifelsfälle bei der Groß-/Kleinschreibung wegfallen, aber es kämen noch mehr Zweifelsfälle bei der Getrennt-/Zusammenschreibung neu hinzu oder würden sich verschärfen (gemessen an der Häufigkeit pro Textmenge). Das gilt wiederum besonders für das Deutsche mit seiner großen Vielfalt von Komposita.“