Endlich ein Konsens in Sicht

Schweizer Journalist 12/2007 + 01/2008

Die sogenannte neue Rechtschreibung erschwert das Lesen. In einer Zeit, in der das Lesen in der Defensive ist, ist das Gegenteil gefordert: dem Leser den Zugang zu den Texten zu erleichtern.

Die verunglückte Rechtschreibreform hat zahlreiche Probleme hinterlassen. Zwei sind für unsere Branche besonders gravierend: die Erschwerung des Lesens und die Vervielfachung der Varianten.

ERSCHWERUNG DES LESENS. Die Rechtschreibreform hat durch die Einebnung von Bedeutungsunterschieden das Lesen erschwert. Das ist ein fataler Ansatz in einer Zeit, in der das Lesen und die Zeitungen in der Defensive sind. Gefordert ist vielmehr, dem Leser den Zugang zu den Texten möglichst zu erleichtern, u.a. durch eine Rechtschreibung, die Bedeutungsunter­schiede durch Unterscheidungs­schreibung kennzeichnet.

Genau dies hat im September 2004 Nationalrätin Kathy Riklin in einem Postulat gefordert: „Erreicht werden soll dieser Konsens namentlich durch eine Änderung des neuen Regelwerkes, wodurch die bisher möglichen Bedeutungsdifferenzierungen durch Zusammen- und Getrenntschreibung erhalten bleiben.“ Der Bundesrat antwortete im November 2004, er teile das Anliegen der Postulantin, und versprach, sich für eine entsprechende Änderung des Regelwerkes einzusetzen.

Der neue Rat für deutsche Rechtschreibung sollte in der Folge den von der Zwischenstaatlichen Kommission angerich­teten Schaden begrenzen. Die Konferenz der Erziehungsdirektoren EDK entsandte allerdings wiederum die bisherigen Mitglieder der aufgelösten Kommission in den neuen Rat. Es kam, wie es kommen musste: Parallel zu den neuen formalistischen wurden auch die Schreibweisen der bisherigen semantischen Rechtschreibung wieder erlaubt, aber ohne die Bedeutung zu differenzieren! Das Resultat, die Regelung 06, ist ein heilloses Durcheinander: wohl bekannt kann nun auch wieder wohlbekannt geschrieben werden, soll aber das Gleiche bedeuten. Das Anliegen der Postulantin Riklin ist damit natürlich keineswegs erfüllt.

VERVIELFACHUNG DER VARIANTEN. Resultat der Schadensbegrenzung ist eine Vervielfachung der Varianten. Varianten sind in der grafischen Industrie seit je unbeliebt. Sie sind kostentreibend, weil sie zu Unsicherheit und vermehrter Korrekturarbeit führen und weil Hausorthografien erstellt werden müssen, um im einzelnen Betrieb die erwünschte Einheitlichkeit zu sichern.

Die politisch Verantwortlichen wissen, dass die Reform einen Scherbenhaufen hinterlassen hat. Aber sie haben sich vom Thema verabschiedet, es gibt hier keine Lorbeeren mehr zu holen. Johanna Wanka, die ehemalige Präsidentin der Kultusministerkonferenz (KMK), bekannte in einem Interview mit dem Spiegel im Januar 2006 freimütig: „Die Kultusminister wissen längst, dass die Rechtschreibreform falsch war. Aus Gründen der Staatsräson ist sie nicht zurückgenommen worden.“

In dieser verfahrenen Situation formierte sich 2006 die Schweizer Orthographische Konferenz (SOK), mit dem Ziel, in der Deutschschweizer Presse wieder eine sprachrichtige und einheitliche Rechtschreibung zu etablieren. Zunächst war die Variantenflut einzudämmen. Dies geschieht ganz einfach durch die Anwendung des Grundsatzes „Bei Varianten die herkömmliche“ (siehe Kasten).

Varianten sind jedoch nur unterschiedliche Schreib­weisen, die das Gleiche bedeuten. Alles andere sind unechte Varianten.

In einigen Fällen hat die Regelung 06 nicht nur unechte Varianten zu echten erklärt, sondern eine unterscheidende Schreibweise eliminiert. Bekanntestes Beispiel ist wohl greulich/gräulich, das nur noch mit ä geschrieben werden soll.

Die SOK empfiehlt in diesen Fällen, bei der Unterscheidungsschreibung zu bleiben. Bei ihrer Arbeit zur Eindämmung der Varianten und Wiederherstellung der Unterscheidungsschreibung hat die SOK Empfehlungen zu weiteren Unzulänglichkeiten der Regelung 06 erarbeitet. Dabei handelt es sich um willkürliche Änderungen, offensichtliche Fehler, Komplizierungen und die Missachtung des Schweizer Usus.

Ein Beispiel: Scheinbar willkürlich herausgepickte ä-Schreibungen und Einzelfallregelungen. Die von e auf ä geänderten Schreibweisen sind unerklärlich. Mit der gleichen Begründung der „Stammschreibung“ hätte man auch belägt (wegen Belag), dänken (wegen Gedanken) und Dutzende weiterer Wörter verändern können. Die SOK empfiehlt deshalb, diese geänderten Schreibweisen nicht zu beachten.

FALSCHE HERLEITUNGEN. Der „Blick“ titelte am 16. August 2004 in einem Artikel über die Rechtschreibung: „Streicht das Belämmerte!“ In einigen Fällen hat die Regelung 06 als angebliche Erleichterung für Primarschüler nämlich falsche Herleitungen nicht nur als Variante erlaubt, sondern zur einzigen Schreibweise erhoben: belämmert (statt: belemmert), platzieren (statt: plazieren), nummerieren (statt: numerieren), Plattitüde (statt: Platitüde) usw. Das ist nicht akzeptabel, und die SOK empfiehlt deshalb wie der „Blick“, diese falschen Herleitungen nicht zu verwenden.

Bei den Angaben von Tageszeiten wie heute abend kann selbst nach den Kriterien der Regelung 06 kein Substantiv stehen. Die SOK empfiehlt die überzeugende, einfache Lösung von Walter Heuer, dem früheren Chefkorrektor der „NZZ“: Die Bezeichnungen der Tageszeiten werden in Verbindung mit heute, gestern, morgen oder wenn sie neben dem Namen eines Wochentags ohne Artikel stehen, klein geschrieben: heute abend; Dienstag morgen. Steht der Artikel vor dem Tagesnamen, so wird die Verbindung zusammengeschrieben: ein Sonntagabend. Geht der Fügung eine mit dem Artikel verschmolzene Präposition (am, zum) oder bis voraus, so sind je nach Betonung beide Schreibweisen richtig: am Mittwochmorgen/Mittwoch morgen, bis Freitagabend/Freitag abend.

GROSS- UND KLEINSCHREIBUNG. In einigen Fällen hat die Regelung 06 zu unnötigen Komplizierungen geführt, zum Beispiel bei der Gross-/Kleinschreibung von pronominal und adverbial gebrauchten Ausdrücken. Im 19. Jahrhundert wurden solche Ausdrücke ziemlich konsequent gross geschrieben. Demgegenüber hat die moderne Rechtschreibung des 20. Jahrhunderts den kleinen Buchstaben gewählt. Die Regelung 06 bleibt in einigen Fällen beim kleinen Buchstaben (ein bisschen, vor allem), schreibt in anderen den grossen vor (der Erstere, im Übrigen) und erlaubt in weiteren Fällen beide Möglichkeiten (der eine/Eine, der andere/Andere, bei Weitem/bei weitem, aufs Beste/aufs beste).

Die SOK hält diesen (Teil-)Schritt zurück ins 19. Jahrhundert für sinnlos und empfiehlt die Kleinschreibung.

SCHWEIZER USUS. Die Regelung 06 nimmt bei der Schreibweise von Fremdwörtern ungenügend auf unseren Usus Rücksicht. Als Grundsatz gilt der SOK: bei fremder Aussprache fremde Schreibweise (siehe Kasten).

Bei der ph/f-Schreibung empfiehlt sie die einfache Regel, Foto, Fotograf, Grafik, Telefon und Telegraf und deren Ableitungen mit f zu schreiben, alle andern Wörter mit den Stämmen phot-, phon- und graph- jedoch nicht.

In wenigen Fällen sieht die SOK Varianten vor, z. B. bei festen Redewendungen. In solchen Wendungen vom Typ im dunkeln tappen ist eine klare Entscheidung für Gross- oder Kleinschreibung in der Tat nicht immer möglich. Die SOK empfiehlt daher, die Schreibweise dem Schreiber zu überlassen und damit auch hier die Regelung 06, die Grossschreibung verlangt, nicht anzuwenden.

DER BALL LIEGT BEIM VERBAND. Die Arbeitsgruppe der SOK hat zu den fehlerhaften Bereichen der Regelung 06 zahlreiche Sätze aus Literatur und Zeitungen geprüft. Ihr geht es nicht um einen Kampf zwischen alter und neuer Rechtschreibung: ohnehin ist die angeblich neue Rechtschreibung in vielen Fällen die alte des 19. Jahrhunderts. Es geht um eine sachliche Auswahl der guten Schreibweisen; Kriterien sind Sprachgebrauch und Sprachrichtigkeit. Diese Auswahl hat die SOK getroffen; sie kann auf ihrer Website www.sok.ch konsultiert werden.

Eine wachsende Zahl von Zeitungen und die Nachrichtenagentur SDA sind bereit, die Empfehlungen der SOK zu übernehmen. Die „NZZ“ (in Deutschland die „FAZ“) schreibt schon bisher weitgehend, wie von der SOK nun empfohlen. Ein Konsens in der leidigen Rechtschreibfrage zeichnet sich damit ab. Erwartet wird noch eine Stellungnahme des Verbandes Schweizer Presse. Das Thema ist traktandiert. Auch die Politik wird das Thema aufgreifen.


PETER MÜLLER
ist Direktor Marketing & Informatik der Schweizerischen Depeschenagentur (SDA). Er ist Leiter der Arbeitsgruppe deutsche Rechtschreibung der SDA und Mitglied der Schweizer Orthographischen Konferenz. eMail: peteremueller@sda.ch

Empfehlungen der SOK:

BEI VARIANTEN DIE HERKÖMMLICHE…

(d. h. wenn nach den Regeln 06 zulässig)
aufwendig (nicht: aufwändig)
aufs äusserste gespannt sein (nicht: Äusserste)
recht haben (nicht: Recht)
hochachten (nicht: hoch_achten)
wie war’s? wie hältst du’s (nicht: wars, dus)
selbständig (nicht: selbstständig) (eigentlich keine Variante)

… AUCH BEI KOMMASETZUNG UND SILBENTRENNUNG:

er empfahl, dem Lehrer nicht zu widersprechen
Chir-urg (nicht: Chi-rurg)
her-auf (nicht: he-rauf)

BEDEUTUNGSDIFFERENZIERUNGEN BEACHTEN:

wohl durchdacht / wohldurchdacht
viel versprechend / vielversprechend
Handvoll / Hand voll
dichtmachen / dicht machen
deutsch-schweizerisch / deutschschweizerisch

Auch wo die Regeln 06 eine Schreibweise eliminiert haben:
greulich / gräulich
wenn ich schriee / wenn ich schrie

FALSCHE HERLEITUNGEN UND FALSCHE GROSSSCHREIBUNG NICHT BEACHTEN:

belemmert (nicht: belämmert)
Zierat (nicht: Zierrat)
Quentchen (nicht: Quäntchen)
plazieren (nicht: platzieren)
greulich (nicht: gräulich) (grauenhaft)
Tolpatsch (nicht: Tollpatsch)
Platitüde (nicht: Plattitüde)
numerieren (nicht: nummerieren)
heute abend (nicht: heute Abend)
Dienstag morgen (nicht: Dienstag Morgen)

BEI FREMDWÖRTERN DEN SCHWEIZER USUS BEACHTEN:

Caramel (nicht: Karamell)
Caritas (nicht: Karitas)
Communiqué (nicht: Kommuniqué)
Couvert (nicht: Kuvert)
Crème (nicht: Creme, Krem)
Début (nicht: Debüt)
Menu (nicht: Menü)
Tea-Room (nicht: Tearoom)

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ungekürzte Version

Es bleibt dabei: das letzte Wort hat die Sprache

Der höchste Politiker des Kantons Bern, Grossratspräsident Dr. Christoph Stalder (FDP), eröffnete die Herbsttagung der SOK vom 31. Oktober 2007 mit grundsätzlichen politischen Überlegungen. Wir übernehmen den Text mit herzlichem Dank von den Schweizer Monatsheften.

Einleitung der Herausgeberin, Suzann-Viola Renninger

1996 löste die Rechtschreibreform heftige Kontroversen aus. In den folgenden 10 Jahren wurde die Reform mit immer weiteren Reformen reformiert – sie machten alles immer schlimmer: Uneinheitlichkeit und Unzufriedenheit wuchsen, die Orientierungslosigkeit nahm zu. Zuletzt blieb der Rat für Rechtschreibung im Versuch, die ärgsten Fehler der Reform zu tilgen, auf halbem Weg stecken; zurück blieb ein Dschungel von Varianten.

Im Sommer 2006 gründeten daher Sprachwissenschafter sowie Vertreter aus dem Verlags­wesen und der Presse in Zürich die Schweizer Orthographische Konferenz (SOK) mit dem Ziel, „in der Presse und Literatur eine einheitliche und sprachrichtige Rechtschreibung zu fördern“.

„Bei Varianten die herkömmliche“ – diese erste Empfehlung verabschiedete die SOK am 1. Juni 2006, um die Varianten der Reform und des Rates einzudämmen. Es soll nun wieder ausschliesslich aufwendig und nicht auch aufwändig gelten, man soll recht und nicht auch Recht haben, die Schillersche Ballade und nicht die Schiller’sche lesen können und dabei aufs äusserste und nicht länger wahlweise aufs Äusserste gespannt sein.

Die SOK empfiehlt ausserdem die herkömmlichen Kommaregeln und die morphologischen Worttrennungen am Zeilenende: Chir-urg und nicht Chi-rurg.

Diese Ausrichtung nach den über Jahrhunderte gewachsenen und bewährten Schreibgewohn­heiten, dieser Abbau des von oben verordneten, weder durch Sprachrichtigkeit noch Einheit­lichkeit ausgezeichneten Regelwerks war konsequent, hatte doch der Rat für deutsche Recht­schreibung, manche Fehler der Reformer einsehend, selbst Schritt für Schritt die Reform von 1996 rückgängig gemacht.

Viel versprechend trat die Rechtschreibreform an, gab sich, als sei alles wohldurchdacht. Doch vielversprechend war sie für die meisten nicht, dass sie wohl durchdacht sei, war nur mit viel Entgegenkommen zu vermuten. Vielversprechend / viel versprechend wie auch wohldurch­dacht / wohl durchdacht sind keine Varianten, da hier die unterschiedlichen Schreibweisen einen Bedeutungsunterschied ausdrücken. Die Rechtschreibreform hatte 1996 diese Unter­schiede zunichte gemacht, indem sie vielversprechend und wohldurchdacht für falsch und allein die Getrenntschreibung für orthographisch korrekt erklärte (ab 2000 liess sie die Zusammenschreibung wieder zu, aber lediglich als gleichbedeutende Variante). Die SOK hingegen empfiehlt, wieder je nach Bedeutung beide Schreibweisen zu verwenden und so die Vielfalt der Bedeutungsnuancen nicht einer falschverstandenen Vereinfachung zu opfern [Abschnitt nachträglich leicht ergänzt].

Viele weitere Widersprüche, Inkonsistenzen und sprachhistorisch falsche Herleitungen veranlassten die SOK, für alle kritischen Fälle Wortlisten zu erstellen; diese betreffen unter anderem Fremdwörter, englische Fügungen, geographische Ableitungen, die Gross- und Kleinschreibung oder die Frage, was passiert, wenn drei Konsonanten aufeinandertreffen (Der vollleibige Balletttänzer geniesst, sich volllaufend lassend, die Flussschifffahrt). Ihre abschliessenden Empfehlungen legte die SOK auf ihrer diesjährigen Herbsttagung in Zürich vor, auf der sie eine Resolution verabschiedete, die die Zeitungen der Deutschschweiz einlädt, die „Empfehlungen im Sinne einer sprachrichtigen und einheitlichen Rechtschreibung zu übernehmen“. Eine Einladung, der die „Schweizer Monatshefte“ gerne folgen. (Die Resolution und die Wortlisten sind unter www.sok.ch/ zu finden.)

Im folgenden drucken wir, leicht gekürzt, die Rede von Christoph Stalder, mit der er die Herbsttagung der SOK eröffnet hat.

Christoph Stalder: Es bleibt dabei: das letzte Wort hat die Sprache

Ich bin nicht Dichter, ich bin nicht Linguist, ich bin von Haus aus Jurist, aber ich liebe unsere Sprache. Eine Sprache entsteht, wird verwendet, wandelt sich, verschwindet vielleicht eines Tages (wie das gesprochene Latein, wie vielleicht das Romantsch). Sie wird unterem anderem beeinflusst und geformt durch Dichter und Denker, durch den Gebrauch an sich, durch Modeströmungen, durch Einflüsse von aussen und insbesondere durch die moderne Internatio­nalisierung.

Die Sprache ist etwas Vorstaatliches, etwas Überstaatliches, etwas Ausserstaatliches; sie ist aber Voraussetzung für staatliches wie für individuelles Handeln und soziales Zusammenleben. Sie kümmert sich nicht um Grenzsteine, sie hat aber in der Geschichte Grenzziehungen beeinflusst. Die Freiheit, die Unabhängigkeit von staatlichen, amtlichen Zwängen macht einen Teil ihres Reichtums aus und ermöglicht es ihr, sich zu entwickeln, zu formen, zu verändern. Selbstverständlich darf der Staat Regeln über den Gebrauch der Sprache in der Verwaltung festlegen; aber weiter geht seine Kompetenz nicht.

Doch plötzlich, vor knapp 30 Jahren, hat sich die Staatsmacht der Sprache in umfassender Weise bemächtigt, in guter Absicht zunächst – der Absicht nämlich, ein volksdemokratisches Sonderdeutsch zu verhindern, mit dem die damalige DDR drohte. Der guten Absicht folgte alsbald die böse, die gleichmacherische, die geradezu sektiererische Tat, die sich nicht um gewachsene Formen, nicht um Sprach- und Sinnverständnis kümmerte, sondern daran ging, das vermeintlich weit offene Feld der deutschen Sprache rigoros umzupflügen.

Das ginge ja noch. Wenn sich eine eifrige, eine eifernde Kommission ans Werk macht, um etwas Neues zu schaffen, dann ist das grundsätzlich löblich. Wenn sie aber in ihrem heiligen Eifer Neuerungen vorschlägt, die zu Unklarheiten, zu Unsicherheiten, zu Sinnveränderungen und zu Sprachverarmungen führen, dann muss man sich fragen, ob hier wirklich hochkarätige Spezialisten am Werk waren. Und wenn dann staatliche Gremien solchen Vorschlägen – ob geprüft und unverstanden oder ob ungeprüft – das amtliche Gütesiegel verleihen, dann ist das Unglück geschehen.

Denn: was der Staat einmal mit seinen Klauen gepackt hat, das lässt er nicht mehr los. Ein politischer Auftrag muss zu einer politischen Lösung, muss zu politischer Genehmigung führen, und am politischen Ergebnis muss aus Gründen der Staatsräson festgehalten werden, selbst wenn Mängel, Fehler, Unzulänglichkeiten, unzulässige Vereinfachungen offensichtlich geworden sind. Wer die staatlich abgesegnete und per amtlichen Erlass eingeführte Arbeit kritisiert und ablehnt, ist a priori verdächtig und tendenziell systemschädigend. Wer darauf hinweist, dass die Arbeit einer Kommission – oder eines Arbeitskreises, wie dieses Gremium hiess – nicht von Mitgliedern dieses gleichen Gremiums überprüft werden sollte, ist lästig und gehört ignoriert.

Und wenn Verlage, Zeitungen, bestandene wie junge Autoren, Dichterinnen, Theater­schaffende die Reformen nicht mittragen, dann wird dies mit einem Achselzucken zur Kenntnis genommen, im Vertrauen darauf, dass jenen der Widerstandsschnauf ohnehin bald ausgehen werde.

Warum die bloss gedämpften, als elitär und deshalb unbeachtlich abqualifizierten Reaktionen auf diese himmelschreiende, greuliche (mit „eu“ bitte) staatliche Entgleisung, diesen Eingriff in über- und ausserstaatliches Kulturgut? Warum kein lauter, vielstimmiger Aufschrei der Entrüstung?

Die Gründe sind vielfältig. Zum einen ist Sprachkompetenz heute weder weitverbreitet noch gefragt. Der zuständige Vertreter der Berner Erziehungsdirektion hat mir gesagt, vordringlich sei, dass die Schülerinnen und Schüler überhaupt noch lesen und schreiben lernten. Zum zweiten stelle ich einen Widerstand in der Lehrerschaft fest, die sich nach 1996 mit der Rechtschreibreform zu befassen begann, sie anwandte und nun nicht bereit ist, nochmals über die Bücher zu gehen. Schliesslich: die Feinheiten der Sprache interessieren im Zeitalter von SMS und „20 Minuten“ nicht. Sprachverluderung zeigt sich am Sorgenbarometer nicht als brennendes Problem.

Was ist zu tun? Die SOK muss ihre Aufklärungsarbeit unbeirrt fortsetzen. Die Dichter, Denker, Redaktoren, übrigen Medienschaffenden und alle, die mit der Sprache ein enges Verhältnis pflegen, sollen bitte weiter so schreiben, wie sie es für vernünftig erachten und wie es verständlich ist.

Das Thema Sprache wäre es wert, Geheimpläne, Umsturzgedanken und Verschwörungs­theorien zu wälzen. Aber in der politischen Wirklichkeit verwendet man diesbezügliche Energien für andere Themen.

Tröstlich bleibt und hoffen lässt, wie Stefan Stirnemann kürzlich in den Schweizer Monatsheften titelte: „Das letzte Wort hat die Sprache.“

Christoph Stalder arbeitet als Leiter Public Affairs bei der Schweizerischen Mobiliar-Versicherung. Er vertritt seit 2002 die FDP im Berner Kantonsparlament.

Nr. 12/01, 2007/2008 Schweizer Monatshefte, Seiten 52 und 53

Lehrer halten sich an Leitmedien

Anton Strittmatter: Die Lehrer dürften sich an der Schreibweise der seriösen Leitmedien orientieren

Dr. Anton Strittmatter, Mitglied der Geschäftsleitung LCH (Dachverband der Schweizer Lehrerinnen und Lehrer): „Ich finde es gut, wenn die Leitmedien Standards setzen. Denn ihnen ist als tägliches Brot die pragmatische, verständliche Kommunikation für ein breites Volk aufgegeben. Die können sich weder eine Rechtschreibverluderung noch einen dünkelhaft-germanistischen Volksbelehrungsstil leisten. Sonst werden sie einfach nicht mehr gekauft. Ich misstraue in dieser Sache allen Berufs-Korrekten: Den Sprachwissenschaftern im universitären Eitelkeitsturm (die ja bei jeder Reform ein mieses, zerstrittenes Bild abgeben) ebenso wie auch der Sorte Lehrer, welche einzig den eindeutigen Rotstiftgebrauch suchen. Die vernünftige Mehrheit der Lehrerinnen und Lehrer dürfte sich letztlich an der Schreibweise der seriösen Leitmedien orientieren – und kämpft überdies, zumindest auf Volksschulstufe, mit ganz anderen Problemen.“ (Mai 2007)

Der Dachverband Schweizer Lehrerinnen und Lehrer (LCH) setzt sich für ein hohes Ansehen des Berufs der Lehrerinnen und der Lehrer ein, sorgt für gute Arbeitsbedingungen und initiiert und unterstützt sinnvolle Entwicklungen im Schul- und Bildungswesen. Er definiert in den Standesregeln die Grundanforderungen für die Berufsausbildung der Lehrpersonen vom Kindergarten bis in den Tertiärbereich. Der LCH ist mit der Mitgliedschaft von über 50’000 Lehrerinnen und Lehrern aus allen Schulstufen der stärkste Lehrerinnen- und Lehrerverband und einer der grössten Arbeitnehmerverbände der Schweiz.

Dr. Anton Strittmatter ist ausserdem Leiter der Pädagogischen Arbeitsstelle des LCH (PA LCH). Der PA LCH ist ein ein bildungswissenschaftlicher Dienst des Verbandes mit vier Hauptaufgaben: fachliche Beratung der Verbandsorgane zu schulpädagogischen Themen, Beratung der kantonalen und interkantonalen Mitgliedorganisationen in pädagogischen Fachfragen, Mitwirkung in der Verbandsführung, in der Öffentlichkeitsarbeit und in der Vertretung des LCH in Gremien der EDK und des Bundes sowie Herstellung und Verkauf von Dienstleistungen an Dritte.

Reiner Kunze: Spottverse

In den Jahren 1996 bis 2006 wurden auf dem Amtsweg zweihundert Jahre differenzierender Orthographieentwicklung in wesentlichen Bereichen für ungültig erklärt und die Einheitlichkeit der deutschen Rechtschreibung zerstört. Kultusministerin Prof. W.: «Die Kultusminister wissen längst, dass die Reform falsch war… Aus Gründen der Staatsräson ist sie nicht zurückgenommen worden.» Die Staatsräson – ein höheres Gut als die Sprache!

unstrittig

Die sprache hat den mund zu halten,
wenn die hohen staatsgewalten
sich für ihren vormund halten
und barbaren sie verwalten

staatsfromm

Der staat trieb der sprache die engel aus,
die engel flogen ins gotteshaus;
dort wartete auf die engel schon
die orthographische inquisition

justizirrtum

Die sprache erschien vor dem Hohen gericht,
die richter aber verstanden nicht
die sprache, die die sprache spricht,
und die sie verstanden, die hörten sie nicht

Reiner Kunze
lindennacht
gedichte

S. Fischer Verlag, Frankfurt am Main 2007

Wir danken Reiner Kunze für die Erlaubnis, die Gedichte abzudrucken.