lügend – ein Adjektiv oder nicht?

8. Juni 2009

Mein Sohn (5. Klasse) musste an einer Deutschprüfung (aus Lernzielkontrollen „Die Linda-Klasse besiegt sich selbst“) aus dem Wortstamm lüg ein Nomen, ein Verb sowie ein Adjektiv bilden. Als Adjektiv hat er dann lügend aufgeschrieben, was ihm seine Lehrerin als falsch angestrichen hat. Auf seine Nachfrage zu Hause habe ich ihm dann mitgeteilt, dass dies für mich ebenfalls ein Adjektiv sei. Im Duden ist lügend zwar nicht zu finden, was aber nicht zwingend bedeutet, dass es das Wort nicht gibt. Aufgrund der Hinweise für den Gebrauch des Dudens darf nämlich aus dem Fehlen eines Wortes nicht geschlossen werden, dass es nicht gebräuchlich oder nicht korrekt ist. Ich habe meinen Sohn dann sogar noch auf www.canoo.net verwiesen, wo die Flexion von lügend zu finden ist. Die Lehrerin beharrt aber – trotz Verweis auf canoo – auf ihrer Meinung, es handle sich nicht um ein „gutes Wort“, es stehe nicht im Duden. Deshalb sei die Lösung lügend falsch. Richtig wäre lügnerisch. Auch auf meine Intervention hin liess sie sich von ihrer Meinung nicht abbringen.

Ich wäre Ihnen dankbar, wenn Sie als für mich doch massgebende Fachleute dazu Stellung nehmen könnten. Ist die Lösung LÜGEND als Adjektiv falsch oder nicht?

Im voraus vielen Dank für Ihr Feedback.

A. H.

 

Sehr geehrter Herr H.,

die Lehrerin hat strenggenommen recht: lügend ist an sich kein Adjektiv, sondern ein Partizip, das aber adjektivisch gebraucht werden kann; ein bisschen recht haben Sie also auch. Eine Wendung wie beispielsweise Der pausenlos lügende Baron Münchhausen ist grammatisch vollkommen in Ordnung. Partizipien werden auf deutsch Mittelwort genannt, ein Hinweis darauf, dass sie zwischen Verb und Adjektiv angesiedelt sind. Sie „partizipieren“, wie der Name sagt, an den Wortarten Verb und Adjektiv.

Manche Partizipien sind reine Adjektive geworden: ein reizendes Lächeln, schneidende Kälte; lügend gehört wie schlafend, essend im normalen Sprachgebrauch dagegen zum Verb.

Nicht alle Partizipien sind im adjektivischen Gebrauch üblich, und bei zweiten Partizipien von intransitiven Verben ist der adjektivische Gebrauch sogar falsch, obwohl er häufig anzutreffen ist: die gestern *stattgefundene Versammlung.

Die Lernzielkontrolle erwartete natürlich ein echtes Adjektiv zum Stamm lüg, also etwa das von der Lehrerin erwähnte lügnerisch oder dann lügenhaft. Es wäre aber angezeigt gewesen, die Lehrerin hätte Ihrem Sohn nicht nur den Fehler angestrichen, sondern ihm auch die Zusammenhänge Partizip/Adjektiv erklärt.

Abwegig ist die von der Lehrerin vertretene Meinung, Wörter, die im Duden (gemeint ist das Rechtschreibwörterbuch) nicht vorkommen, seien schlecht. Zum Stamm lüg liessen sich weitere, im Duden nicht aufgeführte Adjektive bilden, die ohne weiteres benutzt werden können, z. B. lügengleich. Duden führt Flexionsformen nicht immer auf und kann unmöglich alle Zusammensetzungen, geschweige denn Wendungen (Wortgruppen) aufführen. Duden weist, wie Sie richtig erwähnen, ausdrücklich darauf hin, dass für die Auswahl der Stichwörter hauptsächlich rechtschreibliche und grammatische Gründe massgebend sind. „Aus dem Fehlen eines Wortes darf also nicht geschlossen werden, dass es vollkommen ungebräuchlich oder nicht korrekt ist.“

Peter Müller, SOK

wohlverdient und wohlvertraut

8. Juni 2009

Der „Leitfaden zur deutschen Rechtschreibung“ der Bundeskanzlei weist auf einen Unterschied zwischen wohlverdient und wohl verdient hin: der wohlverdiente Ruhestand, aber: Er hat die Strafe wohl (= vermutlich) verdient. Das Postulat Riklin seinerseits sieht einen Unterschied zwischen wohlvertraut und wohl vertraut. Nun führen aber sowohl der „alte“ wie der neue Duden wohlverdient und wohlvertraut nur zusammengeschrieben auf. Was hält die SOK davon?

E. K.

 

Sehr geehrte Frau K.,

die SOK empfiehlt, die unterschiedliche Bedeutung auch bei wohlverdient / wohl verdient und wohlvertraut / wohl vertraut zu beachten: Der Nobelpreis für Grass war wohlverdient (= sehr verdient) / wohl verdient (= eigentlich/vermutlich verdient). Der Dieb war mit der Umgebung wohlvertraut (= gut vertraut) / wohl vertraut (= vermutlich/wahrscheinlich vertraut). Die unterschiedliche Bedeutung drückt sich beim Sprechen ja auch in der Betonung aus.

Der Leitfaden der Bundeskanzlei weist also völlig zu Recht auf diesen Bedeutungsunterschied und die damit verbundene unterschiedliche Schreibweise hin; er tut es im Wörterverzeichnis auch bei wohltun / wohl tun. Seltsamerweise werden dort aber wohlbehütet / wohl behütet, wohlüberlegt / wohl überlegt, wohlschmeckend / wohl schmeckend als austauschbare Varianten ohne Bedeutungsunterschied bezeichnet, und wohlerworben, wohlbehalten, wohltuend gibt es nur zusammengeschrieben.

Die einzige vernünftige und einfachste Regelung für Zusammensetzungen mit wohl ist, den Bedeutungsunterschied zu beachten. Man kann einzig darauf hinweisen, dass es nur die zusammengeschriebene Form gibt (wohl = gut/sehr), wenn das Hinterglied als selbständiges Wort gar nicht vorkommt (wohltuend).

Eine getrennt geschriebene Variante von beispielsweise wohl behalten lässt sich nach dem Muster von wohl tun nämlich ohne weiteres konstruieren: er wird das Geschenk wohl behalten (= vermutlich behalten). Ebenso bei wohlerworben / wohl erworben. Anderseits ist es ohnehin unsinnig, eine getrennt geschriebene Variante von wohl schmeckend aufzuführen, weil sie in der Sprache in dieser Bedeutung nicht vorkommt.

Sie haben recht: Duden führt sowohl heute als auch schon 1991 nur zusammengeschriebenes wohlverdient und wohlvertraut auf. Der neue Duden hat die Wörter offenbar einfach aus dem alten Textbestand übernommen; solches ist ja auch in anderen Fällen zu beobachten. Zu erwarten wäre gewesen, dass er bei den beiden Fällen den gleichen Fehler macht wie bei anderen Zusammensetzungen mit wohl, etwa wohldurchdacht / wohl durchdacht: zusammen- und getrennt geschrieben als austauschbare Varianten ohne Bedeutungsunterschied.

Besseres ist man hingegen vom „alten“ Duden gewohnt. Dort wäre zu erwarten gewesen, dass in beiden Fällen beide Varianten verzeichnet gewesen und auf den Bedeutungsunterschied hingewiesen worden wäre.

Zur Verteidigung des „alten“ Dudens kann man anführen, dass eine getrennt geschriebene Variante, wenn sie überhaupt gebildet werden kann, ohnehin immer zulässig ist, denn Duden kann selbstverständlich nicht alle Fügungen aufführen, die getrennt geschrieben werden; die getrennt geschriebenen Fügungen gebe es also, obwohl sie nicht aufgeführt seien. Weil ein Bedeutungsunterschied damit verbunden ist, wäre es aber zweifellos angezeigt gewesen, auf sie hinzuweisen. (Im amtlichen Wörterverzeichnis sind die Wörter übrigens nicht aufgeführt.)

Eine entsprechende Diskussion hat das im „alten“ Duden nur zusammengeschrieben aufgeführte radfahren heraufbeschworen. Rad fahren war grammatisch natürlich genauso unanfechtbar wie Auto fahren (das aufgeführt war und ist) oder Dreirad fahren (das niemals aufgeführt war). Nehmen wir an, mit dem Eintrag radfahren habe der herkömmliche Duden lediglich zeigen wollen, dass in diesem Fall die Zusammenschreibung bereits üblich war, ohne die getrennt geschriebene Form deswegen auszuschliessen. Es gibt gute Gründe dafür, dass radfahren stärker zur Zusammenschreibung neigt als Auto fahren oder Dreirad fahren. Um Missverständnisse zu vermeiden, hätte der herkömmliche Duden natürlich auch Rad fahren aufführen sollen.

Allerdings ist wohl eher anzunehmen, dass Duden im Sinne einer Doppelschreibungen ausmerzenden Hausorthographie die Variante Rad fahren vermeiden wollte. Duden sah sich seit dem Buchdruckerduden ja in der Tat als so etwas wie eine allgemeine Hausorthographie – das wichtigste Argument der Reformer, dass eine Reform notwendig sei. Aber selbst dann könnte die ausgeschiedene Form Rad fahren niemals als falsch bezeichnet werden. Die Hausorthographie der SOK empfiehlt beispielsweise die Schreibweise Fotograf, was auf keinen Fall heisst, Photograph sei in den Augen der SOK falsch.

Peter Müller, SOK

Warum nicht gleich die gemässigte Kleinschreibung?

11. Juni 2009

Die einzig vernünftige Rechtschreibreform wäre die Kleinschreibung gewesen. Sie hätte für die Schüler eine wirkliche Erleichterung gebracht.

H.-R. O.


Sehr geehrter Herr O.,

die gemässigte Kleinschreibung hätte gegenüber der aktuellen Rechtschreibreform in der Tat den Vorteil, für die Schüler und Wenigschreiber eine Erleichterung zu bringen1 – ein Versprechen, das die Rechtschreibreform bekanntlich in keiner Weise eingelöst hat.

Aber die Forderung nach gemässigter Kleinschreibung beruht auf dem gleichen fatalen Denkfehler wie die „neue“ Rechtschreibung: sie nimmt zugunsten der – anders als bei der Rechtschreibreform wenigstens tatsächlichen – Erleichterung für Schüler dafür Erschwernisse für die (ungleich zahlreicheren) Leser in Kauf und beschneidet die Ausdrucksmöglichkeiten für Normalschreiber.

Von Verfechtern der gemässigten Kleinschreibung wird immer wieder auf andere europäische Sprachen verwiesen, die ohne Grossschreibung der Substantive auskommen. Das taugt nicht als Beweis ihrer Überflüssigkeit. Erstens ist es groteskerweise durchaus möglich, dass eine Sprachgemeinschaft ihre eigene Sprache mutwillig beschädigt, wie das Beispiel der deutschen Rechtschreibreform eindrücklich beweist. Zweitens unterscheiden sich diese Sprachen trotz ihrer Verwandtschaft wesentlich vom Deutschen. So haben sie „keinen auch nur […] annähernden Grad von synthetischem Satzbau, von Attributhäufungen oder ausserwortbildungsmässigen Transpositionsmöglichkeiten, geschweige denn eine Kombination all dieser Strukturelemente.“ (Prof. Rudolf Hotzenköcherle, 1955, Grossschreibung oder Kleinschreibung? Bausteine zu einem selbständigen Urteil. Der Deutschunterricht 7, 30-49) „Im Französischen z. B. wird fast immer das Substantiv zuerst genannt, das erst anschliessend durch Attribute erweitert wird: une voiture comfortable et vite. Der Leser erfährt also zunächst, dass es sich im Beispiel um ein Auto handelt und bekommt anschliessend die beschreibenden Erläuterungen geliefert – der Kern ist von vornherein bestimmbar. Im Deutschen erfolgt dies in genau umgekehrter Vorgehensweise: Zunächst erhält man die Beschreibungen, die erst am Ende der Nominalgruppe auf den eigentlichen Kern bezogen werden: ein neues, schickes, blaues, schnelles Auto. Im Englischen ist die Wortfolge streng nach dem Subjekt-Prädikat-Objekt-Prinzip organisiert. Die Flexibilität des deutschen Satzbaus ist demgegenüber erheblich höher. Genau aus diesem Grund scheint es sinnvoll, dass im Deutschen der Kern dieser beweglichen Elemente, der Nominalgruppen, formal durch einen die visuelle Gliederung begünstigenden Grossbuchstaben ausgezeichnet wird.“ (Hartmut Günther und Ellen Nünke, Kölner Beiträge zur Sprachdidaktik, 1-2005, Warum das Kleine gross geschrieben wird)

Ob die Grossschreibung der Substantive eine Lesehilfe ist oder nicht, ist in zahlreichen Untersuchungen überprüft worden. Nochmals Günther-Nünke: „Es ist deshalb wichtig zu klären, ob die Grossschreibung den Lesevorgang tatsächlich erleichtert. Es könnte ja auch sein, dass es nur die Macht der Gewohnheit ist, die uns zu dieser Annahme gelangen lässt. Im Hinblick auf diese Fragestellung erlangen einige experimentelle Studien besondere Bedeutung, die eben dieses zu überprüfen versuchten, vgl. u. a. Bock, Hagenschneider & Schweer (1989) sowie Gfroerer, Günther & Bock (1989). Um den Faktor der ,Gewohnheit’ auszuschliessen, waren die wichtigsten Versuchspersonen nicht Deutsche, sondern deutschkundige Niederländer, die zwar aufgrund ihrer Sprachkenntnisse auch die deutsche Schreibung kennen, aber Lesen im Niederländischen gelernt haben; hier werden nur Satzanfänge und Eigennamen grossgeschrieben.

Die Untersuchungen brachten überraschende Ergebnisse: Auch für die niederländischen Versuchspersonen stellten die Regeln der deutschen Grossschreibung eine Hilfestellung dar, die den Leseprozess beschleunigten. Sie konnten Texte in ihrer eigenen Muttersprache (!) mit den fremden satzinternen Grossbuchstaben ohne Verständnisprobleme schneller lesen als solche mit der ihnen vertrauten gemässigten Kleinschreibung. Detailanalysen der Augenbewegungsmuster liessen den Schluss zu, dass in der Tat der Orientierungscharakter der Grossbuchstaben dafür verantwortlich war (Gfroerer et al. 1989).“

Populäre Beispiele für Missverständnisse bei gemässigter Kleinschreibung sind „der gefangene floh“, „helft den hungernden vögeln“ und „in Moskau hat er liebe genossen“. Obwohl reine Witzbeispiele, zeigen sie den Kern des Problems. Ernsthafter setzte sich der frühere Doyen der schweizerischen Chefkorrektoren, Walter Heuer (NZZ), mit dem Thema auseinander. Er wies darauf hin, dass die Missverständnisse zahlreicher wären, „als die Freunde der Kleinschreibung zugeben; das kann keinem entgehen, der unsere heutige Schriftsprache daraufhin untersucht. Da ist einmal die so beliebte Inversion von regierendem Substantiv und Genitivattribut, die bei Kleinschreibung den Leser irreführen würde in Beispielen wie: der treue lohn (der Treue Lohn), der mächtigen gunst (der Mächtigen Gunst), der weisen führung (der Weisen Führung), der besten Eingebung (der Besten Eingebung). Gottfried Keller hätte, wenn Kleinschreibung zu seiner Zeit Gesetz gewesen wäre, niemals schreiben dürfen: Fürwahr! Ich kaum ein Erdenvölklein wüsste, das nicht zerstöbe wie der wüste sand … (der Wüste Sand).

Walter Heuer weiter:

„Ein viel gewichtigeres Hindernis bilden jedoch die im heutigen Deutsch so häufigen Substantivierungen aller Art. Allen voran sind hier die substantivierten Adjektive und Partizipien zu nennen, die in manchen Fällen als Attribute nachfolgender – wirklicher oder vermeintlicher – Substantive verkannt würden. Dafür nur einige von vielen Beispielen aus unserer Praxis:

Es galt für selbstverständlich, dass ein über ein buch gebeugter geistlicher lektüre oblag.

  • (ein über ein Buch Gebeugter geistlicher Lektüre oblag)

Neben der öffentlichen hand stehe es aber auch dem privaten an, in der dorfgemeinschaft das schöne, das edle und das geistlich-sittliche leben fördern zu helfen.

  • (das Schöne, das Edle und das geistlich-sittliche Leben)

Hier ist er als konservativer liberaler und als liberaler konservativer als sein gegenspieler.

  • (ist er als Konservativer liberaler und als Liberaler konservativer)

Sie musste feststellen, dass ein farbiger besitzer ihres hauses geworden war.

  • (ein Farbiger Besitzer ihres Hauses geworden war)

Judas erhängt sich nach qualvollen, grüblerischen nächten, von allen, zuletzt auch von seiner geliebten Lea, verabscheut.

  • (seiner geliebten Lea oder seiner Geliebten Lea? Das wäre doch wohl ein kleiner Unterschied!)

In der bibel ist von leuten die rede, die dem irdischen leben und dem jenseits nicht viel nachfragen.

  • (die dem Irdischen leben).“

(Walter Heuer, Graphia, 1956, Die „gemässigte“ Kleinschreibung [in Schweizer ss-Schreibung und bereinigt um die übrigen, damals diskutierten reformierten Schreibweisen wie Eliminierung der Dehnungszeichen])

Heuer weist zudem zu Recht auf einen anderen Grund hin, der zu erschwertem Lesen bei gemässigter Kleinschreibung führt, und zitiert den Philologen und Mitgründer des Goethe-Instituts Franz Thierfelder:

„,Je weniger Ober- und Unterlängen ein Schriftsystem besitzt, um so schwieriger wird das Lesen. Das Auge ermüdet rascher, wenn es sich nicht an die über und unter das Zeilenband herausragenden Buchstabenteile klammern kann.’ […] Was Dr. Thierfelder hier über die optische Wirkung des Schriftbildes sagt, kann jeder von uns aus eigener Erfahrung bestätigen. Erinnern wir uns doch noch sehr gut der Zeit, als der Versaliensatz in der Typographie grosse Mode war. Ganze Geschäftskarten, Inserate, Programme usw. wurden in Versalien gesetzt. Das war aber eine kurzlebige Mode, und mit Recht: Spätestens bei der dritten Versalzeile hört nämlich der Leser auf und legt das Blatt beiseite.

Warum aber sind Versalzeilen so viel schwerer zu lesen? Bestimmt nicht, weil der einzelne Grossbuchstabe ein weniger klares und einprägsames Bild hätte als der entsprechende Kleinbuchstabe. Nein, der Grund liegt im vollständigen Fehlen der über und unter das Zeilenband herausragenden Haltepunkte, deren das Auge zum leichten Erfassen der Wortbilder bedarf. Zugegeben: die vorgeschlagene Kleinschreibung wirkt bei weitem nicht so krass wie der reine Versaliensatz; aber sie bedeutet doch einen grossen Schritt in dieser Richtung.“

Die aktuellen Reformer sind samt und sonders Anhänger der gemässigten Kleinschreibung. Die Politik, bei denen sie sich nach eigener Aussage „den Auftrag für die Reform holten“, bedeutete ihnen aber zum vornherein, davon die Finger zu lassen. Darauf haben sie uns (aus Trotz?) die antiquierte vermehrte Grossschreibung aus der Biedermeierzeit aufgehalst. Das wird nicht Bestand haben. Aber auch die gemässigte Kleinschreibung ist aus all den hier angeführten Gründen keine Lösung und ohnehin chancenlos. Die Lösung besteht nach Ansicht der SOK in der modernen Orthographie, wie wir sie bis 1996 mit der Grossschreibung nur der echten Substantive hatten, selbst wenn dabei einige Abgrenzungsprobleme zwischen echten und unechten Substantiven in Kauf zu nehmen sind – Abgrenzungsprobleme, die es übrigens trotz gemässigter Kleinschreibung bei Namen weiterhin gäbe (erste / Erste Hilfe).

Peter Müller, SOK



1 Selbst diese Erleichterung ist nicht gesichert. Wolfgang Wrase widerspricht auf der FDS-Website: „Es würden Zweifelsfälle bei der Groß-/Kleinschreibung wegfallen, aber es kämen noch mehr Zweifelsfälle bei der Getrennt-/Zusammenschreibung neu hinzu oder würden sich verschärfen (gemessen an der Häufigkeit pro Textmenge). Das gilt wiederum besonders für das Deutsche mit seiner großen Vielfalt von Komposita.“

du und Sie ‒ gross oder klein?

18. Mai 2009

Durch einen Artikel der NZZ am Sonntag bin ich auf Ihre Website gestossen. Schon einige Zeit habe ich eine Unsicherheit. Auf der Liste der Schweizer Orthographischen Konferenz finde ich unter Gross-/Kleinschreibung weder Sie noch du. Sind laut Ihren Empfehlungen diese Anreden gleich oder unterschiedlich gross bzw. klein zu schreiben?

R. H.

 

Sehr geehrter Herr H.,

besten Dank für Ihre Anfrage. Bitte beachten Sie, dass die Wörterverzeichnisse der SOK in der Regel nur die Abweichungen von der „neuen“ Rechtschreibung, Abweichungen vom Grundsatz der SOK „Bei Varianten die herkömmliche“ sowie Fälle aufführen, in denen die Einhaltung dieses Grundsatzes zu keiner eindeutigen Schreibweise führt (wenn in der neuen Rechtschreibung mehrere Varianten bestehen, die mit keiner oder mehreren herkömmlichen übereinstimmen).

Die Höflichkeitsanrede Sie (samt dazugehörigen Pronomen wie Ihr) ist in der neuen wie in der herkömmlichen Rechtschreibung gross zu schreiben. Sie kann so vom normalen sie (3. Person Plural) unterschieden werden.

Die Form ist von der neuen Rechtschreibung also nicht betroffen, und es bestand daher keine Veranlassung, sie in die Wörterverzeichnisse der SOK aufzunehmen.

Bei der Anrede du ist zwischen Anreden in Briefen u. ä. und anderen Anwendungen zu unterscheiden. Ausser in Briefen wird du sowohl in herkömmlicher wie in neuer Rechtschreibung klein geschrieben. In Briefen wird Du (samt dazugehörigen Pronomen wie Dir) herkömmlich gross geschrieben. Die neue Rechtschreibung verordnete zunächst Kleinschreibung, nach Intervention des Rates für deutsche Rechtschreibung kann es aber auch wieder gross geschrieben werden. (Das gleiche gilt natürlich für die Mehrzahlform Ihr und die dazugehörigen Pronomen wie Euer.)

Es handelt sich also um Varianten. Hier greift der Grundsatz der SOK „Bei Varianten die herkömmliche“ (d. h. es wird Grossschreibung empfohlen). Deshalb bestand auch hier keine Veranlassung, die Form in die Wörterverzeichnisse der SOK aufzunehmen.

Peter Müller, SOK