alle Reisenden oder alle Reisende?

20. Oktober 2013

Die Durchsage in den Zügen lautet: wir bitten alle Reisenden auszusteigen. Gefühlsmässig würde ich sagen: wir bitten alle Reisende auszusteigen.Was ist richtig? Ich bin gespannt.

R. N.

 

Sehr geehrte Frau N.,

alle Reisenden ist richtig. Ich zitiere aus Duden, Richtiges und gutes Deutsch, 7. Aufl. Mannheim 2011:

alle Anwesenden / Anwesende • für alle Reisenden / Reisende: Im Singular wird das substantivierte Adjektiv oder Partizip nach all- immer schwach dekliniert: alles Fremde; die Beseitigung alles Trennenden; trotz allem Schönen. Auch im Plural wird im Allgemeinen schwach dekliniert: alle Abgeordneten, Angehörigen, Anwesenden, Beamten; aller Unzufriedenen, Beteiligten, Reisenden usw. Starke Formen kommen nur noch selten vor: alle Anwesende, alle Reisende, für alle Magenkranke.

Das gleiche gilt übrigens für keine.

Peter Müller, SOK

Schulen und Sprachen oder Schule und Sprachen?

29. September 2013

Wir sind daran, ein Flugblatt als Einladung an Lehrpersonen zu entwerfen, um sie zu motivieren, mit ihrer Klasse die zweisprachige Stadt Biel/Bienne zu besuchen. Soll der Titel heissen: „Schulen und Sprachen“ oder „Schule und Sprachen“? Was ist korrekt, was macht Sinn?

J. G.

 

Sehr geehrte Frau G.,

beide Titel sind korrekt und machen Sinn. Bei „Schule und Sprachen“ denke ich an die Institution Schule, bei „Schulen und Sprachen“ sehe ich die vielen einzelnen Ausprägungen dieser Institution.

Ich nehme an, dass Sie die beiden Landessprachen stärken wollen, und ich hoffe, dass Sie damit Erfolg haben. Die Landessprachen sind für uns eine demokratische Pflicht und eine Aufgabe, insofern Arbeit, die als solche lästig sein kann. Englisch kann man später und nebenher lernen.

Wenn Sie zweimal die Mehrzahl verwenden („Schulen und Sprachen“) betonen Sie die Vielfalt unseres Bildungswesens, die aber auf einer Einheit ruht (z. B. den Landessprachen). Es kommt darauf an, wie Sie in Ihrem Flugblatt argumentieren und einladen.

Stefan Stirnemann, SOK

münstersches oder Münstersches Stadtrecht?

11. Juli 2013

Auch nach dem Studium aller SOK-Listen und allgemeiner Regelungen bin ich zu keinem Schluss gekommen, ob im folgenden Fall Groß- oder Kleinschreibung anzuwenden ist:

Mehrere Reglungen des Münsterschen [oder: münsterschen] Stadtrechts wurden erstmals im frühen 13. Jahrhundert aufgeschrieben.

Das Anhängen von -isch macht selbst aus einem Städtenamen ein Adjektiv – aber über das Anhängen von -sch schweigt sich mein alter Duden aus.

Können Sie mir weiterhelfen?

C. J.

 

Sehr geehrte Frau J.,

Ableitungen von geographischen Namen auf -isch sind, wie Sie richtig bemerken, Adjektive und deshalb klein zu schreiben. Das gilt auch für Ableitungen auf -sch.

§ 62 des amtlichen Regelwerks sagt dazu:

Kleingeschrieben werden adjektivische Ableitungen von Eigennamen auf -(i)sch, außer wenn die Grundform eines Personennamens durch einen Apostroph verdeutlicht wird, ferner alle adjektivischen Ableitungen mit anderen Suffixen.

Beispiele:
die darwinsche/die Darwin’sche Evolutionstheorie, das wackernagelsche/Wackernagel’sche Gesetz, die goethischen/goetheschen/Goethe’schen Dramen, die bernoullischen/Bernoulli’schen Gleichungen
die homerischen Epen, das kopernikanische Weltsystem, die darwinistische Evolutionstheorie, tschechisches Bier, indischer Tee, englischer Stoff

Auffällig ist, dass die entsprechende Duden-Regel für Ableitungen von geographischen Namen, K 142, nicht wie das amtliche Regelwerk von Ableitungen auf -(i)sch schreibt, sondern von solchen auf -isch. Das ist vermutlich nur eine Ungenauigkeit Dudens, könnte aber bedeuten, dass Ableitungen auf -sch nicht mitgemeint sind. So oder so hat aber das amtliche Regelwerk Vorrang. (Duden-Regel für Ableitungen von Personennamen: K 135.)

Falls der Begriff ein Eigenname ist, ist er natürlich groß zu schreiben:

Münstersche Zeitung, die Münsterschen Sicherheitsgespräche, der Münstersche Wingolf (Studentenverbindung), der Münstersche Bildungskongress, die Münstersche Straße (Berlin), die Münstersche Aa usw. Mit Münsterisch: die Münsterische Stiftsfehde, der Münsterische Bierkrieg, Münsterische Sozialrechtsvereinigung e. V. usw.

Duden führt das Beispiel münstersch zwar nicht auf, man kann es aber als Analogie zu hannoversch bestimmen (münsterisch zu hannoverisch). Häufig sind im Duden Schreibweisen in Analogie zu gleichartigen zu bestimmen (zum Beispiel alle Zahlenverbindungen unter acht).

Fundstellen für die Kleinschreibung von münstersch sind schwierig zu finden. Der Wortschatz der Uni Leipzig enthält keine, der DWDS-Kernkorpus nur wenige und sehr alte: 12, allerdings fast alle aus der gleichen Quelle: 11mal in den Jahresberichten für deutsche Geschichte, 9./10./12./13. Jahrgang, Leipzig 1936/1937/1939 (32mal münsterisch in den gleichen Quellen), einmal in der Vossischen Zeitung (Morgen-Ausgabe) vom 2. März 1909: Von der münsterschen zur westfälischen Universität. Noch älter ist das Buch Die münstersche eheliche Gütergemeinschaft (1829). Eine junge Fundstelle ist das Portal der Deutschen Volleyball-Liga; es titelt am 12. April 2013: Emotionaler Saisonabschluss im münsterschen Volleydome. Da Google nicht zwischen Groß- und Kleinschreibung unterscheidet, sind Fundstellen über Google schwierig zu finden.

Ich vermute, dass es eine Hemmung gibt, münstersch klein zu schreiben (was für mich nachvollziehbar ist) und dass deshalb häufig auch unfeste Begriffe groß geschrieben werden oder die Einwohnerbezeichnung Münsteraner als Ersatz für das Adjektiv verwendet wird (wie Schweizer für schweizerisch, z. B. in Schweizer Orthographische Konferenz).

Es stellt sich noch die Frage, ob man den Begriff als Quasi-Eigennamen (fester Begriff, Nominationsstereotype, amtliches Regelwerk: „Verbindungen mit terminologischem Charakter”, Duden: „Adjektive, die mit dem folgenden Substantiv einen idiomatisierten Gesamtbegriff bilden”) definieren könnte, dann wäre sowohl Klein- wie Großschreibung möglich. Mit einigem Wohlwollen ist das wohl möglich.

Dazu § 64 des amtlichen Regelwerks:

In bestimmten substantivischen Wortgruppen werden Adjektive großgeschrieben, obwohl keine Eigennamen vorliegen.

Dies betrifft
(1) Titel, Ehrenbezeichnungen, bestimmte Amts- und Funktionsbezeichnungen, zum Beispiel:
der Heilige Vater, der Regierende Bürgermeister, die Königliche Hoheit, der Technische Direktor
(2) besondere Kalendertage, zum Beispiel:
der Heilige Abend, der Internationale Frauentag, der Erste Mai
(3) fachsprachliche Bezeichnungen bestimmter Klassifizierungseinheiten, so von Arten, Unterarten oder Rassen in der Botanik und Zoologie, zum Beispiel:
Fleißiges Lieschen, Grüner Veltliner, Roter Milan, Schwarze Witwe

E: Die Großschreibung von Adjektiven, die mit dem Substantiv zusammen für eine begriffliche Einheit stehen, ist auch in Fachsprachen außerhalb der Biologie und bei Verbindungen mit terminologischem Charakter belegt, zum Beispiel: Gelbe Karte, Goldener Schnitt, Kleine Anfrage; Erste Hilfe
In manchen Fachsprachen wird demgegenüber die Kleinschreibung bevorzugt, zum Beispiel: eiserne Lunge, grauer Star, seltene Erden

Entsprechend Duden K 89.

Duden hat die Schreibweise von Dutzenden von Nominationsstereotypen festgelegt und dabei häufig die Schreibweise gegenüber der herkömmlichen geändert, sowohl von Klein- auf Großschreibung (Blauer Planet, Deutsche Dogge) als auch umgekehrt (das goldene Zeitalter, das große Los) oder die Schreibweise freigestellt (die neuen/Neuen Medien, herkömmlich Kleinschreibung, der Letzte/letzte Wille, herkömmlich Großschreibung).

Zusammenfassend: In Ihrem Beispiel ist entscheidend, ob es sich beim Begriff um einen Eigennamen handelt, dann ist dieser zu übernehmen, im vorliegenden Falle wohl Münstersche Stadtrechte. Ist der Begriff kein Eigenname, ist er klein zu schreiben: münstersche oder münsterische Stadtrechte oder ist die Einwohnerbezeichnung als Ersatz für das Adjektiv zu verwenden: Münsteraner Stadtrechte. Versteht man man den Begriff als Quasi-Eigennamen (fester Begriff, Nominationsstereotype), kommt neben der Klein- auch die Großschreibung in Frage: Münstersche oder Münsterische Stadtrechte.

Sie haben mit Ihrer Frage auf eine Lücke in unseren Empfehlungen hingewiesen, wofür wir sehr dankbar sind. Wir werden die Empfehlungen und Wörterlisten ergänzen.

Peter Müller, SOK

Wladimir oder Vladimir Putin?

Wladimir26. Juni 2013

Bei meiner Arbeit als Korrektor bin ich auf folgendes Problem gestossen:

In der Werbekampagne einer Schweizer Sonntagszeitung kam der Name Vladimir Putin in der Headline vor. Als zuständiger Korrektor korrigierte ich das auf Wladimir Putin, gemäss Duden und Wikipedia. Der zuständigen Werbeagentur passte das aber nicht, sie beharrte auf der Schreibweise Vladimir, mit dem Hinweis, dass es auch im Englischen und Französischen so geschrieben werde. Das ist natürlich kein gültiges Argument. Die Inserate wurden folglich mit der falschen Schreibweise Vladimir publiziert, womit die Agentur ihre sprachliche Inkompetenz unter Beweis stellte.

Mich interessiert nun der Grund dafür, dass die deutsche Sprache bei der Transkription von slawischen Eigen- und Ortsnamen aus dem V ein W macht, während im Englischen, in den romanischen und vielen anderen Sprachen V V bleibt. Ich vermute phonetische Gründe, möchte das aber genauer wissen.

D = Wladimir, Wladiwostok usw.

E, F, I, SP, Port. usw. = Vladimir, Vladivostok usw.

Besten Dank für die Beantwortung meiner Frage.

A. A.

 

Sehr geehrter Herr A.,

eine Empfehlung zu Transkriptionen befindet sich noch in der Pendenzenliste der SOK. Trotzdem die folgenden Bemerkungen.

Mit Ihrer Vermutung phonetischer Gründe für die Unterschiede bei der Transkription in Deutsch und Englisch liegen Sie zweifellos richtig.

Bei der Transkription werden die Buchstaben eines Ausgangsalphabets in diejenigen eines anderen Alphabets einer Zielsprache gemäss deren Ausspracheregeln übertragen. Das soll einem Sprecher der Zielsprache ermöglichen, ein Wort möglichst genau wie in der Ausgangssprache auszusprechen.

Bei der einfachen Transkription nur mit Hilfe der in der Zielsprache vorhandenen Zeichen ist dies natürlich nur eingeschränkt möglich. Um zu genaueren Resultaten zu gelangen, ist der Einsatz von diakritischen Zeichen wie in der phonetischen Umschrift notwendig.

Von der Transkription ist die Transliteration zu unterscheiden, bei der jedem Buchstaben des Ausgangsalphabets ein Zeichen des Zielalphabets zugeordnet wird. Hat das Ausgangsalphabet mehr Zeichen als das Zielalphabet, sind diakritische Zeichen notwendig. Transliterationen sind, im Gegensatz zu Transkriptionen, rückübertragbar. Sie sind nur bei alphabetischen Schriften möglich.

Der Fall von Wladimir Putin scheint klar zu sein. Das russische Вв wird etwa wie deutsch w ausgesprochen oder wie englisch v. Deutsch würde v eher wie f ausgesprochen (wie in vier). Daher die deutsche Transkription Wladimir und die englische Vladimir.

Aber damit ist das Problem noch nicht vollständig umschrieben.

Zum einen besteht die Tendenz, Buchstaben, die sich in beiden Alphabeten entsprechen, unverändert zu lassen, selbst wenn sie unterschiedlich ausgesprochen werden.

Sodann werden fremdalphabetische Namen im Pass des Inhabers üblicherweise ins Englische (teilweise noch ins Französische) transkribiert. Im Pass von Putin steht also Vladimir Putin. Damit wird diese Schreibweise sozusagen amtlich.

Das führt beispielsweise dazu, dass ein fremdalphabetischer Name im Zivilstandsregister eines deutschsprachigen Landes gemäss der englischen Transkription eingetragen wird. (Bei einer Einbürgerung kann der Name dann eingedeutscht werden.)

Eine Rolle spielt auch die Übermacht des Englischen. So sieht der Zuschauer bei Sportveranstaltungen fremdalphabetische Namen in englischer Transkription und nimmt diese als die „richtige“ Schreibweise wahr.

Eine Frage ist ferner, wie im Ausland eingebürgerte oder auch nur lebende Träger fremdalphabetischer Namen im Deutschen geschrieben werden sollen. Ein bekannter Fall ist Strawinski, der erst in Frankreich, dann in den USA eingebürgert wurde. Die französische Transkription ist Stravinski, die englische Stravinsky, im Deutschen liest man häufig die Mischform Strawinsky, richtig wäre hier Strawinski. Ähnlich Rachmaninow, der zeitweise in Deutschland gelebt hatte, kurz vor seinem Tod US-Bürger wurde, aber zeit seines Lebens weder Rachmaninow noch Rakhmaninov, sondern Rachmaninoff als Umschrift seines Namens benutzte.

Eine Empfehlung der SOK gibt es dazu noch nicht. Zu erwarten ist, dass mindestens für nicht ausgewanderte Träger fremdalphabetischer Namen die deutsche Transkription empfohlen wird, also Wladimir Putin.

Peter Müller, SOK