Glücksache oder Glückssache?

kleeblatt14. März 2012

Schön, dass die Schreiber bei 20 Minuten Online das Verständnis für ihre Fehler bei Peter Müller schon im Vornhinein eingeholt haben: „Bündner vergoogeln sich am häufigsten“.

In der Weltwoche herrscht über die Rechtschreibung dieses Wortes Uneinigkeit ‒ oder wurde durch die SOK berichtigt?

A. P.


Liebe Frau P.,

scharf beobachtet! Wie das s in die Glücksache gekommen ist, kann ich nicht mehr eruieren. Stefan Stirnemann könnte uns vermutlich sagen, wie er es in seinem Manuskript geschrieben hat. Zum Fall kann man folgendes sagen: Es sind beide Formen korrekt, mit oder ohne Binde-s; sie sind auch beide im Duden ohne Bevorzugung der einen oder andern aufgeführt. In der Schweiz werde das Binde-s tendenziell häufiger benutzt als in Deutschland, hat das kürzlich erschienene Duden-Büchlein „Schweizerhochdeutsch“ festgestellt, das gestern im Tages-Anzeiger besprochen worden ist (Martin Ebel: „Wer zügelt und weibelt, muss ein Schweizer sein“). Der Autor nennt Zugsmitte als Beispiel. Ich habe dies kürzlich bei einer Diskussion, ob es Gesetzentwurf oder Gesetzesentwurf heisse, anhand von Google-Treffern ebenfalls belegen können. Es gibt allerdings auch Gegenbeispiele: Auslandaufenthalt (schweiz., nicht im Duden aufgeführt!), Auslandsaufenthalt (dt.).

Peter Müller, SOK

Hunderte oder hunderte?

demonstranten6. Februar 2012

Wir sind uns in unserer Redaktion immer wieder uneinig, ob es heisst „Hunderte Demonstranten“ (gross geschrieben) oder „hunderte“ (klein geschrieben).

Wie sehen Sie das? Ihre Empfehlungen der SOK zur deutschen Rechtschreibung lassen meines Wissens eine eindeutige Richtung offen…

F. F.

 

Sehr geehrter Herr F.,

die Rechtschreibreform hat zur herkömmlichen Schreibweise Hunderte als zusätzliche Variante hunderte eingeführt. Demnach sind beide Schreibweisen richtig.

Die Empfehlungen der SOK enthalten den Grundsatz „Bei Varianten die herkömmliche“. Daraus folgt, dass die SOK die Schreibweise Hunderte empfiehlt.

Peter Müller, SOK

plazieren, numerieren, Platitüde, greulich

10. September 2011

Einige der von Ihnen genannten falschen Herleitungen habe ich überprüfen können (Quentchen ‒ Quent, belemmert ‒ belemmern, Zierat ‒ Zierot, Tolpatsch ‒ Talbache u. ä. (die alten Ungarn), wobei das Wort in den Wörterbüchern (Grimm, Adelung) bisweilen alternativ auch „Tollpatsch“ geschrieben wird.

Für diese Wörter kenne ich die Herleitung nicht:

  • plazieren (Plazet?)
  • numerieren
  • Platitüde
  • greulich ‒ kommt Greuel/Gräuel nicht von Grauen?

U. S.


Sehr geehrter Herr S.,

plazieren / numerieren:

Dazu hat Prof. Wachter hier erschöpfend Antwort gegeben.

Platitüde:

Das Wort ist direkt aus dem französischen platitude entnommen. Da eine mögliche Übersetzung „Plattheit“ ist, handelt es sich bei der Schreibweise mit zwei t um eine offensichtliche Volksetymologie.

Greuel:

Dazu schreibt Prof. Ickler auf FDS:

Greuel geht auf mittelhochdeutsches griuwel zurück, die weitere Entwicklung entspricht den Lautgesetzen (frühneuhochdeutsche Diphthongierung). Die Schreibweise mit äu ist eine volksetymologische Änderung und war gelegentlich anzutreffen, aber die Rechtschreibreform maßt sich an, diese Schreibweise als einzige zuzulassen.“

Ergänzung durch „Germanist“:

„Die beiden unterschiedlichen ursprünglichen Wortstämme ahd. ‚grao‘, mhd. ‚gra‘ vs. mhd. ‚griu‘ bilden durch die frühneuhochdeutsche Diphthongierung noch im Duden, 14. Aufl. 1955, die Schnittmengen ‚grauen‘ 1.) grau werden, 2.) Furcht haben sowie ‚graulich‘ 1.) etwas grau, 2.) unheimlich, wobei die zweite Bedeutung aus ‚graulen‘ gebildet wurde. In späteren Dudenausgaben sind diese beiden Homonyme nicht mehr so deutlich enthalten. Die Sprachgemeinschaft hat diese Doppelbedeutungen abgestellt, indem das Vorgangsverb durch das Präfix ‚er-‘ zu ‚ergrauen‘ vom Zustandsverb ‚grauen‘ getrennt wurde und das Adjektiv ‚graulich‘ in den Farbton ‚gräulich‘ und den Zustand ‚greulich‘ getrennt wurde. Die Schnittmengen wurden zu leeren Mengen. Das war nun wirklich keine ‚Fehlentwicklung‘. Auch hier ist die ‚Reform‘ nur eine Zurückformung auf einen längst überholten Stand.“

Das wesentliche Problem der äu-Schreibung ist, dass damit auch die Ableitung greulich mit äu geschrieben werden muss und damit nicht mehr von gräulich („eine Art von grau“) unterschieden werden kann. Stefan Stirnemann hat nachgewiesen, dass damit in zahlreichen Werken der Literatur nicht mehr klar ist, was gemeint ist, z. B. in der Novelle „Fräulein Stark“ von Thomas Hürlimann:

„Der Onkel, gewandet wie ein Tropenmissionar, weiße Soutane, weißer Hut, stürmte wenig später aus dem Saal, im Gefolge Vize Storchenbein und sämtliche Hilfsbibliothekare, alle verschwitzt, gräulich verstaubt, außer Atem, offenbar waren sie stundenlang durch die hinteren und oberen Säle gekrochen.“

Ich hoffe, das beantworte Ihre Fragen.

Peter Müller, SOK

nahe liegend oder naheliegend?

19. Juli 2011

Viele Verlage, darunter auch das Haus NZZ, haben sich geweigert, den Unsinn der Rechtschreibreform mitzumachen. Am NZZ-Vademecum, das 1971 erstmals erschien, orientiert sich auch die Schweizer Orthographische Konferenz (SOK), die seit 2006 für eine vernünftige Rechtschreibung kämpft. Sowohl der Verband Schweizer Presse als auch die Konferenz der Chefredaktoren empfehlen die Umsetzung der SOK-Regeln. Das Folio folgt grundsätzlich dem NZZ-Vademecum, behält sich aber einzelne Abweichungen vor (zum Beispiel Toscana statt Toskana).

Der am schwersten wiegende Fehler des Reformwerks war zweifellos, dass das Rad der Sprachentwicklung um mehr als hundert Jahre zurückgedreht wurde. Zum Beispiel bei der Gross- und Kleinschreibung: Hier bestand seit langem die Tendenz, Wörter, deren substantivische Bedeutung verblasst war, klein zu schreiben: zum Beispiel heute abend, ohne weiteres usw. Die Reformer haben durch die vermehrte Grossschreibung diese Entwicklung in ihr Gegenteil verkehrt. Wir bleiben in den meisten Fällen bei der Kleinschreibung.

Auch bei der Zusammen- und Getrenntschreibung wurden durch rigorose Auftrennung viele Wörter in ihrer Bedeutung entstellt. Wir schreiben weiterhin zusammen: fertigstellen, bekanntgeben, kennenlernen, schiefgehen, unheilbringend, aufsehenerregend, sogenannt, hierzulande, alleinstehend.

Durch diese Dezimierung des Wortschatzes wurden viele Bedeutungsunterschiede eingeebnet, die durch die unterschiedliche Schreibweise dargestellt werden konnten. Wir halten an den Unterschieden fest: frisch gebackenes Brot – frischgebackene Eheleute; wohl bekannt (wahrscheinlich bekannt) – wohlbekannt (sehr bekannt); ein nahe liegendes Restaurant – ein naheliegender Gedanke.

Was die Schreibung der Laute und Buchstaben betrifft, wurden meist nur einzelne Wörter oder Wortgruppen herausgepickt und einer neuen Schreibweise unterzogen, während ähnliche in der alten Schreibweise belassen wurden – ein weiterer Fehler der Reform. Wie soll man beispielsweise einem Mittelschüler erklären, dass er neu Potenzial und substanziell schreiben darf, aber nur Initial und exponentiell? Wir halten uns hier an die vor 1996 geltenden Schreibweisen, schreiben also Tip, As, Tolpatsch, Zierat, fritieren, numerieren, rauh, Roheit.

Urs Remund, Korrektor

(erschienen im Sprachkreis Deutsch)