Stefan Stirnemann: Zur Lage der Schule

Die neue Rechtschreibung erschwert den Zugang zu den Texten. Viele Sätze sind auch nach zwei- oder dreimaligem Lesen unklar. Schuld sind vor allem die Veränderungen in den Bereichen: Getrenntschreibung (wohlbekannt), Beziehung Laut-Buchstabe (greulich), Satzzeichen (Weglassen vieler Kommas). Auch die vermehrte Grossschreibung schafft Unsicherheit, da nun Gleiches ungleich behandelt wird (von vornherein, zum Vornherein).

Die Presse hat von Anfang an nicht alles mitgemacht, schreibt also seit Reformbeginn (1996) anders als die Schule. Das gilt vor allem für die Kernbereiche der Zeichensetzung und Getrenntschreibung, aber auch für die vermehrte Grossschreibung.

1 Zeichensetzung

Peter Gallmann, führender Schweizer Reformer, hat 1997 Walter Heuers schönes Buch „Richtiges Deutsch“ auf Reform umgestellt. In diesem Buch, das in erster Linie für publizistisch Tätige gedacht ist, empfiehlt er die nichtreformierte Zeichensetzung:

„Redaktion und Korrektorat sollen auch in Zukunft von der Möglichkeit Gebrauch machen, zwischen Hauptsätzen, die mit und, oder verbunden sind, ein Komma zu setzen. Dies gilt etwa für lange Sätze und keineswegs nur für krasse Fälle wie die folgenden, die ohne Komma kaum zu lesen sind:

‚Ich fotografierte die Berge, und meine Frau lag in der Sonne.“‘ (1548)

„Die neue amtliche Regelung von 1996 gibt die Kommasetzung bei Infinitivgruppen mit zu weitgehend frei. Für die grafische Industrie, vor allem die Zeitungs- und die Zeitschriftenherstellung, wo aus Quellen unterschiedlichster Herkunft ein sprachlich sauberes und einheitliches Produkt hergestellt werden soll, dürfte diese Lösung aber wenig praktikabel sein. Wir schlagen daher eine Regelung vor, die sich am bisherigen Schreibgebrauch orientiert.“ (1567)

Der Rat für deutsche Rechtschreibung hat hier manches (wenn auch nicht alles) im Sinne des bisherigen Schreibgebrauches verbessert, aber in unseren Schulen werden diese Verbesserungen nicht weitergegeben.

Beispiel: Im neuen Handbuch für den Unterricht (2007) lehren Thomas Lindauer und Claudia Schmellentin, Mitglieder im Rat für deutsche Rechtschreibung, man könne folgendes Doppelkomma weglassen: Olga hat die Idee, schnell ein Bier zu trinken, stets behagt. Das entspricht nicht der Doktrin des Rates für deutsche Rechtschreibung.

Lindauer und Schmellentin sind Schüler und Mitarbeiter Peter Gallmanns; ihr Vorgehen zeigt, dass die Reformer unabhängig von der Lesbarkeit der Texte möglichst viel von ihrer Reform retten wollen.

2 Vermehrte Grossschreibung

Es entspricht altem Schreibgebrauch, feste Wendungen wie von neuem, seit langem, im allgemeinen klein zu schreiben. Die Reform hat in vielen (wenn auch nicht in allen) Fällen den grossen Buchstaben wiedereingeführt, der im 19. Jahrhundert üblich war. Bis 2004 war bei 14 Fällen nur der kleine Buchstabe richtig (von neuem, seit langem, ohne weiteres), seit 2004 ist auch der grosse Buchstabe möglich, und in der Schule soll nur die Grossschreibung vermittelt werden, wie es in der entsprechenden Handreichung der EDK heisst. Auch sie ist von Lindauer und Schmellentin verfasst worden. Die Schweizer Presse macht diese Grossschreibung mehrheitlich nicht mit.

3 Getrenntschreibung

Auch hier soll unsere Schule möglichst auf Reformkurs 96 gehalten werden; es soll möglichst viel getrennt werden. Im Schweizer Schülerduden, herausgegeben von Peter Gallmann und Thomas Lindauer, wird empfohlen, dass auch dort, wo der Rat für deutsche Rechtschreibung die Zusammenschreibung (als Variante) wieder möglich gemacht hat, die Getrenntschreibung vorzuziehen sei, „da sie dem Normalfall entspricht“. So hält der Schweizer Schülerduden an der 96er Trennung von wieder sehen fest, die der Duden bereits 2000 wieder aufgegeben hat.

Fazit

Es besteht seit Reformbeginn eine Kluft zwischen Schweizer Schule und Schweizer Presse. Sie ist mit dem Regelwerk des Rates für deutsche Rechtschreibung nicht kleiner geworden. Wollte man diese Kluft im Sinne der Schweizer Reformer schliessen, müsste die Presse weitgehend nach Reform 96 schreiben. Das ist undenkbar, da die Presse existenziell der Lesbarkeit und Sprachrichtigkeit verpflichtet ist.

Auch für die Schule müssen Lesbarkeit und Sprachrichtigkeit der Massstab sein. Mit den Empfehlungen der SOK ist dieser Massstab wieder gegeben. Deswegen werden sie aus der Geschäftsleitung des LCH (Votum Strittmatter) und vom grossen deutschen Schulbuch­verleger Michael Klett unterstützt.

Anführungszeichen

25. Februar 2008

Zufälligerweise in der Liste Personen und Begriffe entdeckter Fehler: Beim Wort Faradaysche Gesetze heisst es zweimal Fesetze anstatt Gesetze.

Ich habe mich kaum getraut, diesen Hinweis zu schreiben, denn als ein in der gepflegten und korrekten Schreibweise unsicherer und verunsicherter Durchschnittsbürger (nicht nur wegen der neuen Rechtschreibung) musste ich deswegen zuerst alle Hemmungen abschütteln!  ;-)  So war ich mir nicht sicher, ob ich nun den Begriff Personen und Begriffe sowie den Begriff Faradaysche Gesetze und das falsche Wort Fesetze in Anführungs- und Schlussstrichen setzen soll.

Wahrscheinlich sollte man’s! Oder? Dagegen sträubte sich aber, und da bin ich nun bestimmt in guter Gesellschaft mit vielen Zeitgenossen, mein Drang nach Schnelligkeit und Einfachheit. Nun habe ich’s aber doch noch getraut und wünschte mir dafür von Ihnen einen diesbezüglichen Hinweis sowie eine Korrektur meines Mails, falls das, äh…, nicht zuviel Mühe macht.

W. H.

 

Sehr geehrter Herr H.,

herzlichen Dank für Ihren Hinweis! Solche Fehler lassen sich leider nicht ganz vermeiden, und wir sind über jeden Hinweis sehr froh.

Zu Ihrer Frage wegen der Anführungszeichen: Es gibt keine strikte Regel. Man sollte Anführungs­zeichen setzen, wenn sonst die Gefahr von Missverständnissen bestünde oder die Lesbarkeit stark eingeschränkt wäre. Es gibt in Ihrem Satz keine Gefahr von Missverständnissen, und er ist ohne Mühe lesbar. Anführungszeichen sind deshalb nicht notwendig. Schnelligkeit und Einfachheit gehen, wie Sie schreiben, vor – zumal in einem E-Mail, wo verkürzte Schreibweisen üblich sind.

Peter Müller, SOK

Endlich ein Konsens in Sicht

Schweizer Journalist 12/2007 + 01/2008

Die sogenannte neue Rechtschreibung erschwert das Lesen. In einer Zeit, in der das Lesen in der Defensive ist, ist das Gegenteil gefordert: dem Leser den Zugang zu den Texten zu erleichtern.

Die verunglückte Rechtschreibreform hat zahlreiche Probleme hinterlassen. Zwei sind für unsere Branche besonders gravierend: die Erschwerung des Lesens und die Vervielfachung der Varianten.

ERSCHWERUNG DES LESENS. Die Rechtschreibreform hat durch die Einebnung von Bedeutungsunterschieden das Lesen erschwert. Das ist ein fataler Ansatz in einer Zeit, in der das Lesen und die Zeitungen in der Defensive sind. Gefordert ist vielmehr, dem Leser den Zugang zu den Texten möglichst zu erleichtern, u.a. durch eine Rechtschreibung, die Bedeutungsunter­schiede durch Unterscheidungs­schreibung kennzeichnet.

Genau dies hat im September 2004 Nationalrätin Kathy Riklin in einem Postulat gefordert: „Erreicht werden soll dieser Konsens namentlich durch eine Änderung des neuen Regelwerkes, wodurch die bisher möglichen Bedeutungsdifferenzierungen durch Zusammen- und Getrenntschreibung erhalten bleiben.“ Der Bundesrat antwortete im November 2004, er teile das Anliegen der Postulantin, und versprach, sich für eine entsprechende Änderung des Regelwerkes einzusetzen.

Der neue Rat für deutsche Rechtschreibung sollte in der Folge den von der Zwischenstaatlichen Kommission angerich­teten Schaden begrenzen. Die Konferenz der Erziehungsdirektoren EDK entsandte allerdings wiederum die bisherigen Mitglieder der aufgelösten Kommission in den neuen Rat. Es kam, wie es kommen musste: Parallel zu den neuen formalistischen wurden auch die Schreibweisen der bisherigen semantischen Rechtschreibung wieder erlaubt, aber ohne die Bedeutung zu differenzieren! Das Resultat, die Regelung 06, ist ein heilloses Durcheinander: wohl bekannt kann nun auch wieder wohlbekannt geschrieben werden, soll aber das Gleiche bedeuten. Das Anliegen der Postulantin Riklin ist damit natürlich keineswegs erfüllt.

VERVIELFACHUNG DER VARIANTEN. Resultat der Schadensbegrenzung ist eine Vervielfachung der Varianten. Varianten sind in der grafischen Industrie seit je unbeliebt. Sie sind kostentreibend, weil sie zu Unsicherheit und vermehrter Korrekturarbeit führen und weil Hausorthografien erstellt werden müssen, um im einzelnen Betrieb die erwünschte Einheitlichkeit zu sichern.

Die politisch Verantwortlichen wissen, dass die Reform einen Scherbenhaufen hinterlassen hat. Aber sie haben sich vom Thema verabschiedet, es gibt hier keine Lorbeeren mehr zu holen. Johanna Wanka, die ehemalige Präsidentin der Kultusministerkonferenz (KMK), bekannte in einem Interview mit dem Spiegel im Januar 2006 freimütig: „Die Kultusminister wissen längst, dass die Rechtschreibreform falsch war. Aus Gründen der Staatsräson ist sie nicht zurückgenommen worden.“

In dieser verfahrenen Situation formierte sich 2006 die Schweizer Orthographische Konferenz (SOK), mit dem Ziel, in der Deutschschweizer Presse wieder eine sprachrichtige und einheitliche Rechtschreibung zu etablieren. Zunächst war die Variantenflut einzudämmen. Dies geschieht ganz einfach durch die Anwendung des Grundsatzes „Bei Varianten die herkömmliche“ (siehe Kasten).

Varianten sind jedoch nur unterschiedliche Schreib­weisen, die das Gleiche bedeuten. Alles andere sind unechte Varianten.

In einigen Fällen hat die Regelung 06 nicht nur unechte Varianten zu echten erklärt, sondern eine unterscheidende Schreibweise eliminiert. Bekanntestes Beispiel ist wohl greulich/gräulich, das nur noch mit ä geschrieben werden soll.

Die SOK empfiehlt in diesen Fällen, bei der Unterscheidungsschreibung zu bleiben. Bei ihrer Arbeit zur Eindämmung der Varianten und Wiederherstellung der Unterscheidungsschreibung hat die SOK Empfehlungen zu weiteren Unzulänglichkeiten der Regelung 06 erarbeitet. Dabei handelt es sich um willkürliche Änderungen, offensichtliche Fehler, Komplizierungen und die Missachtung des Schweizer Usus.

Ein Beispiel: Scheinbar willkürlich herausgepickte ä-Schreibungen und Einzelfallregelungen. Die von e auf ä geänderten Schreibweisen sind unerklärlich. Mit der gleichen Begründung der „Stammschreibung“ hätte man auch belägt (wegen Belag), dänken (wegen Gedanken) und Dutzende weiterer Wörter verändern können. Die SOK empfiehlt deshalb, diese geänderten Schreibweisen nicht zu beachten.

FALSCHE HERLEITUNGEN. Der „Blick“ titelte am 16. August 2004 in einem Artikel über die Rechtschreibung: „Streicht das Belämmerte!“ In einigen Fällen hat die Regelung 06 als angebliche Erleichterung für Primarschüler nämlich falsche Herleitungen nicht nur als Variante erlaubt, sondern zur einzigen Schreibweise erhoben: belämmert (statt: belemmert), platzieren (statt: plazieren), nummerieren (statt: numerieren), Plattitüde (statt: Platitüde) usw. Das ist nicht akzeptabel, und die SOK empfiehlt deshalb wie der „Blick“, diese falschen Herleitungen nicht zu verwenden.

Bei den Angaben von Tageszeiten wie heute abend kann selbst nach den Kriterien der Regelung 06 kein Substantiv stehen. Die SOK empfiehlt die überzeugende, einfache Lösung von Walter Heuer, dem früheren Chefkorrektor der „NZZ“: Die Bezeichnungen der Tageszeiten werden in Verbindung mit heute, gestern, morgen oder wenn sie neben dem Namen eines Wochentags ohne Artikel stehen, klein geschrieben: heute abend; Dienstag morgen. Steht der Artikel vor dem Tagesnamen, so wird die Verbindung zusammengeschrieben: ein Sonntagabend. Geht der Fügung eine mit dem Artikel verschmolzene Präposition (am, zum) oder bis voraus, so sind je nach Betonung beide Schreibweisen richtig: am Mittwochmorgen/Mittwoch morgen, bis Freitagabend/Freitag abend.

GROSS- UND KLEINSCHREIBUNG. In einigen Fällen hat die Regelung 06 zu unnötigen Komplizierungen geführt, zum Beispiel bei der Gross-/Kleinschreibung von pronominal und adverbial gebrauchten Ausdrücken. Im 19. Jahrhundert wurden solche Ausdrücke ziemlich konsequent gross geschrieben. Demgegenüber hat die moderne Rechtschreibung des 20. Jahrhunderts den kleinen Buchstaben gewählt. Die Regelung 06 bleibt in einigen Fällen beim kleinen Buchstaben (ein bisschen, vor allem), schreibt in anderen den grossen vor (der Erstere, im Übrigen) und erlaubt in weiteren Fällen beide Möglichkeiten (der eine/Eine, der andere/Andere, bei Weitem/bei weitem, aufs Beste/aufs beste).

Die SOK hält diesen (Teil-)Schritt zurück ins 19. Jahrhundert für sinnlos und empfiehlt die Kleinschreibung.

SCHWEIZER USUS. Die Regelung 06 nimmt bei der Schreibweise von Fremdwörtern ungenügend auf unseren Usus Rücksicht. Als Grundsatz gilt der SOK: bei fremder Aussprache fremde Schreibweise (siehe Kasten).

Bei der ph/f-Schreibung empfiehlt sie die einfache Regel, Foto, Fotograf, Grafik, Telefon und Telegraf und deren Ableitungen mit f zu schreiben, alle andern Wörter mit den Stämmen phot-, phon- und graph- jedoch nicht.

In wenigen Fällen sieht die SOK Varianten vor, z. B. bei festen Redewendungen. In solchen Wendungen vom Typ im dunkeln tappen ist eine klare Entscheidung für Gross- oder Kleinschreibung in der Tat nicht immer möglich. Die SOK empfiehlt daher, die Schreibweise dem Schreiber zu überlassen und damit auch hier die Regelung 06, die Grossschreibung verlangt, nicht anzuwenden.

DER BALL LIEGT BEIM VERBAND. Die Arbeitsgruppe der SOK hat zu den fehlerhaften Bereichen der Regelung 06 zahlreiche Sätze aus Literatur und Zeitungen geprüft. Ihr geht es nicht um einen Kampf zwischen alter und neuer Rechtschreibung: ohnehin ist die angeblich neue Rechtschreibung in vielen Fällen die alte des 19. Jahrhunderts. Es geht um eine sachliche Auswahl der guten Schreibweisen; Kriterien sind Sprachgebrauch und Sprachrichtigkeit. Diese Auswahl hat die SOK getroffen; sie kann auf ihrer Website www.sok.ch konsultiert werden.

Eine wachsende Zahl von Zeitungen und die Nachrichtenagentur SDA sind bereit, die Empfehlungen der SOK zu übernehmen. Die „NZZ“ (in Deutschland die „FAZ“) schreibt schon bisher weitgehend, wie von der SOK nun empfohlen. Ein Konsens in der leidigen Rechtschreibfrage zeichnet sich damit ab. Erwartet wird noch eine Stellungnahme des Verbandes Schweizer Presse. Das Thema ist traktandiert. Auch die Politik wird das Thema aufgreifen.


PETER MÜLLER
ist Direktor Marketing & Informatik der Schweizerischen Depeschenagentur (SDA). Er ist Leiter der Arbeitsgruppe deutsche Rechtschreibung der SDA und Mitglied der Schweizer Orthographischen Konferenz. eMail: peteremueller@sda.ch

Empfehlungen der SOK:

BEI VARIANTEN DIE HERKÖMMLICHE…

(d. h. wenn nach den Regeln 06 zulässig)
aufwendig (nicht: aufwändig)
aufs äusserste gespannt sein (nicht: Äusserste)
recht haben (nicht: Recht)
hochachten (nicht: hoch_achten)
wie war’s? wie hältst du’s (nicht: wars, dus)
selbständig (nicht: selbstständig) (eigentlich keine Variante)

… AUCH BEI KOMMASETZUNG UND SILBENTRENNUNG:

er empfahl, dem Lehrer nicht zu widersprechen
Chir-urg (nicht: Chi-rurg)
her-auf (nicht: he-rauf)

BEDEUTUNGSDIFFERENZIERUNGEN BEACHTEN:

wohl durchdacht / wohldurchdacht
viel versprechend / vielversprechend
Handvoll / Hand voll
dichtmachen / dicht machen
deutsch-schweizerisch / deutschschweizerisch

Auch wo die Regeln 06 eine Schreibweise eliminiert haben:
greulich / gräulich
wenn ich schriee / wenn ich schrie

FALSCHE HERLEITUNGEN UND FALSCHE GROSSSCHREIBUNG NICHT BEACHTEN:

belemmert (nicht: belämmert)
Zierat (nicht: Zierrat)
Quentchen (nicht: Quäntchen)
plazieren (nicht: platzieren)
greulich (nicht: gräulich) (grauenhaft)
Tolpatsch (nicht: Tollpatsch)
Platitüde (nicht: Plattitüde)
numerieren (nicht: nummerieren)
heute abend (nicht: heute Abend)
Dienstag morgen (nicht: Dienstag Morgen)

BEI FREMDWÖRTERN DEN SCHWEIZER USUS BEACHTEN:

Caramel (nicht: Karamell)
Caritas (nicht: Karitas)
Communiqué (nicht: Kommuniqué)
Couvert (nicht: Kuvert)
Crème (nicht: Creme, Krem)
Début (nicht: Debüt)
Menu (nicht: Menü)
Tea-Room (nicht: Tearoom)

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Eszett in der Schweiz

26. November 2007

Ich arbeite an einer Geschichte zum schleichenden Wegfall des scharfen s aus der bundesdeutschen Schriftsprache. Vermehrt wird auch hierzulande – und zwar gegen die Rechtschreibreform – das ß durch doppeltes s ersetzt, so vor Diphthongen (z. B. Werbung eines Baumarktes: „Rabatt auf alles – ausser Tiernahrung“ man verschickt freundliche Grüsse und wohnt in der Poststrasse usw.).

Die Schweiz verzichtet ja schon länger auf das scharfe s, richtig?

Sind Sie so nett und erteilen mir für meine Recherche Informationen, warum und seit wann das ß bei Ihnen keine Rolle mehr spielt?

Ph. K.


Sehr geehrter Herr K.,

eine der Neuerungen der Rechtschreibreform ist die Umstellung der Eszett-Schreibung von der Adelungschen auf die Heysesche Regel. Nach Adelung wird das Eszett zur Kennzeichnung des stimmlosen s (Muße) gesetzt, um es vom stimmhaften zu unterscheiden (Muse), für die Kennzeichnung des Wort- oder Stammendes, wo es in Zusammensetzungen wie Mißstand eine besondere Funktion hat, sowie im Inlaut nach langen Vokalen und Diphthongen. Nach Heyse wird das Eszett nur nach langen Vokalen und nach Diphthongen gesetzt (Straße, beißen).

Die Heysesche Eszett-Regel vermindert die Zahl der Eszett stark. Es ist deshalb anzunehmen, daß damit der generelle Ersatz des Eszett durch ein Doppel-s gefördert wird. Die Erwartung der Reformer, daß die Heysesche Regel zu weniger Fehlern führen werde, wird damit offensichtlich nicht erfüllt. Auffällig ist besonders die Zunahme der Verwechslung von das und dass. Die Heysesche Regel ist im 19. Jahrhundert in Österreich schon einmal eingeführt und nach einer Probezeit wieder verworfen worden, da sie sich offensichtlich nicht bewährte.

Die Adelungsche Regel ist lesefreundlicher als die Heysesche. Diese ist immerhin noch lesefreundlicher als die schweizerische Praxis, überhaupt kein Eszett zu setzen.

Die Entwicklung in der Schweiz

Wie in Deutschland kannten die frühen Antiquadrucke in der Schweiz kein Eszett, obwohl die Zweite Orthographische Konferenz von 1901 es auch für Antiqua zwingend vorschrieb. Der Beschluss wurde in Deutschland nach und nach umgesetzt, in der Schweiz (und in Liechtenstein) aber nie durchgängig. Das Schweizerische Bundesblatt führte es nach der Umstellung von Fraktur auf Antiqua 1873 etwas später zwar ein, hob es aber mit der Ausgabe vom 21. März 1906 wieder auf.

Seit Beginn des 20. Jahrhunderts wurde das Eszett in der Schweiz mehr und mehr durch ein Doppel-s ersetzt. Die Kantone begannen in den späten dreißiger Jahren, das Eszett nicht mehr zu lehren, der bevölkerungsreichste, häufig als Vorbild dienende Kanton Zürich ab dem 1. Januar 1938. Offiziell abgeschafft wurde das Zeichen aber nie. Am 4. November 1974 stellte auch die Neue Zürcher Zeitung (NZZ) als letzte der Schweizer Zeitungen auf Doppel-s um.

Der damalige Chefkorrektor der NZZ, Max Flückiger, schrieb in einer internen Weisung:

„Mit Stichtag Sonntag, 3. November 1974, lassen wir den Buchstaben ß fallen und setzen an seiner Stelle zwei s. Der Grund für diese Maßnahme liegt darin,

  • daß der Buchstabe ß in der Schweiz in den Schulen schon lange nicht mehr gelehrt wird und deshalb Automatik und Korrektorenabteilung die Ausbildung von neu eintretenden Angestellten übernehmen mußten,
  • daß Agenturen und Korrespondenten uns fast nur noch mit Texten ohne ß beliefern,
  • daß der Leser den Buchstaben ß kaum vermissen wird und
  • daß bei zunehmender Computerisierung dieser Schritt später doch getan werden müßte.“

Und zum Schluß: „Dem Hinschied des ß werden zünftige Schwarzkünstler wohl ein paar symbolische Tränen nachweinen – auch ich. Trotzdem bitte ich, den Trauerfall nicht zu tragisch zu nehmen, dafür die Aufmerksamkeit, die bis jetzt der Pflege des ß geschenkt wurde, auf die Pflege anderer, vielleicht wichtigerer sprachlicher Dinge zu richten.“

Trotz des Ersatzes des Eszett durch ein Doppel-s wurde in der Regel aber in einem Fall ein Unterschied beachtet: Beim Zusammentreffen von drei s mit folgendem Vokal wurden alle drei s geschrieben (Kongresssaal), im Gegensatz zu andern Konsonanten (Schiffahrt). Bei der Silbentrennung hingegen wurde die alte Regel, daß beim Ersatz des Eszett durch Doppel-s beide s auf die nächste Zeile zu schreiben sind (Blö-sse in Analogie zu Blö-ße), nie angewendet (sondern Blös-se getrennt). Beides hat seit der Rechtschreibreform von 1996 keine Bedeutung mehr: drei Konsonanten werden ohnehin in jedem Fall geschrieben, und das durch Ersatz des Eszett entstandene Doppel-s kann getrennt werden.

Heute wird das Eszett nur noch von den Schweizer Buchverlagen verwendet, da sie ihre Produkte auch in Deutschland und Österreich absetzen wollen. Optimisten glauben in der neuerdings in SMS-Texten zu beobachtenden Verwendung des Eszett eine Wiedergeburt des Zeichens in der Schweiz zu erkennen. Diese Verwendung hat aber mit größter Wahrscheinlichkeit lediglich mit der in den Mobiltelefonen enthaltenen Schreibhilfe zu tun, die ein Wort vorschlägt, auch wenn es noch nicht zu Ende geschrieben ist (z. B. erscheint nach Grus Gruß). Die SMS-Schreiber, die von den Eszett-Regeln normalerweise keine Ahnung haben, akzeptieren das Eszett gerne, weil es im ohnehin knappen Raum der SMS einen Buchstaben einspart. Eine Wiedereinführung des Eszett in der Schweiz dürfte jedenfalls vollkommen unrealistisch sein. Auch gebildete Schweizer kennen die Eszett-Regeln nicht, obwohl sie durch die Lektüre von Büchern und deutschen Zeitschriften durchaus an das Zeichen gewöhnt sind.

Mutmaßungen über die Gründe

Mutmaßungen über die Gründe für die Abschaffung des Eszett in der Schweiz (und in Liechtenstein) gibt es viele. Schlüssig erforscht ist das Thema offensichtlich nicht.

Die meistgenannten Gründe sind:

  • Schweizer Einheitstastatur für Schreibmaschinen

Mit der Einführung der Schweizer Einheitstastatur für Schreibmaschinen in den dreißiger Jahren mußten die Zeichen àéè und ç auf der Tastatur untergebracht werden. Dem ç fiel das Eszett, das ohnehin nicht mehr systematisch verwendet wurde, zum Opfer (den àéè die Versalumlaute ÄÖÜ).

  • andersartige Phonologie der schweizerdeutschen Dialekte

Peter Gallmann führt das Verschwinden des Eszett auf die andersartige Phonologie der schweizerdeutschen Dialekte zurück. Das Doppel-s, das Eszett ersetzt, sei in der Schweiz ein Silbengelenk, gehöre also anders als in Deutschland zu beiden Silben: „Die Schreibung mit Doppel-s nach Langvokal und Diphthong entspricht der Syllabierung in den schweizerdeutschen Dialekten bzw. in der schweizerisch gefärbten Standardsprache: Fortis-/s/ ist auch nach Langvokalen und Diphthongen Silbengelenk, das heißt, es wird ambisyllabisch realisiert. Die Korrespondenz /s.s/ → ‹ss› stimmt daher gut zur besonderen schweizerischen Sprachsituation; eine Anpassung an die Verhältnisse im übrigen deutschen Sprachraum ist nicht zu erwarten“ (siehe hier).

  • frühere Verbreitung der Antiqua-Schriften in der Schweiz

Manche Autoren vermuten, daß die im Unterschied zu Deutschland frühere Verbreitung der Antiqua- statt der Frakturschriften in der Schweiz zum Verschwinden des Eszett geführt habe. Das Eszett geht auf eine Ligatur der Frakturschrift zurück, und Antiquaschriften hatten ursprünglich kein Eszett. Gallmann hält dem entgegen, daß das Eszett seit dem Ende des 19. Jahrhunderts auch in Antiquaschriften etabliert war und in der Buchproduktion auch verwendet wurde. Darüber hinaus wurden Zeitungen in der Schweiz länger als in Deutschland, nämlich bis Ende der vierziger Jahre dieses Jahrhunderts, in Fraktur und damit auch mit Eszett gesetzt. In Deutschland verbot Hitler am 3. Januar 1941 die als „Schwabacher Judenlettern“ gebrandmarkte Fraktur.

  • Abgrenzung zu Nazideutschland

Schließlich gibt es auch noch Stimmen, die hinter dem Verschwinden des Eszett in der Schweiz eine Abgrenzbewegung gegenüber dem aufkommenden Nationalsozialismus in Deutschland vermuten. Gegen diese Annahme spricht allerdings, daß der Ersatz des Eszett durch ein Doppel-s in der Schweiz schon früher, bereits zu Beginn des 19. Jahrhunderts, einsetzte und dass ausgerechnet die NSDAP in ihrem Schriftverkehr die ss-Schreibung praktizierte.

Fazit: In Wirklichkeit hat vermutlich nicht ein einzelner Grund, sondern eine Kombination von Gründen zum Verschwinden des Eszett in der Schweiz geführt.

Peter Müller, SOK