Ein Wörterbuch für Untertanen

30. September 2020

Duden: Die Deutsche Rechtschreibung. Bibliographisches
Institut. 1294 S., Fr. 41.90

Auf einem glatten See, wenig Wellengang sei in Kauf genommen, ziehen Stehpaddler auf schlanken Brettern ihre Bahnen. Sie wollen alle dasselbe: Bewegung und Freiheit,
Wasser und Landschaft, Sonne und Luft. Es sind viele, und doch gibt es keinen Zusammenstoss, weil alle ihn meiden.
Am Ende des Tages, wenn der Wasserspiegel die Spuren festhalten könnte, sähe ein Adler, darüber fliegend, ein kunstvolles Muster aus breiten Linien und Bögen und feinen Nebenranken. So entwickelt sich die Sprache und mit ihr die Schrift, die Sigmund Freud treffend «die Sprache des Abwesenden» nannte.
Alle Schreiber wollen dasselbe, nämlich verstanden werden, und gemeinsam schaffen sie Muster und bilden Satzformen und Wörter. Der Wörterbuchmacher hat nur zu beobachten und festzuhalten; wenn er Muster verbietet oder befiehlt, greift er unsere Sprache an. Vor 25 Jahren begannen die Reformer der Rechtschreibung ihr Zerstörungswerk, und der Duden setzt es bis heute fort; unter dem Titel der geschlechtergerechten Sprache weitet er es aus …
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Von Stefan Stirnemann

Rechtschreibfrieden? Leider nein!

Erschienen im Dossier: «Die Macht der Sprache»
Schweizer Monat, Ausgabe 1076 – Mai 2020

Aktuell herrscht ein unübersichtliches und willkürliches
Regelchaos, das dringend nach Bereinigung schreit. Mehr
Sprachdemokratie würde helfen.
von Rudolf Wachter

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rechtschreibfrieden

Ist lustlos steigerbar?

Sehr geehrte Damen und Herren,
kann das Adjektiv lustlos gesteigert werden?
Danke für Ihre Antwort und herzliche Grüsse,
K. M.

 

Sehr geehrte Frau M.
Streng logisch gesehen, können Adjektiv mit un- und auf -los eigentlich nicht gesteigert werden. Sie gehören zu den «absoluten Adjektiven», -un bedeutet hier «nicht» und -los «ohne», das sind absolute Zustände, die nicht gesteigert werden können.

Dies gilt aber nur für Adjektive, die noch ganz konkrete Inhalte haben, wie kinderlos, bargeldlos, obdachlos, fleischlos.

Wenn Adjektive auf -los in übertragener Bedeutung verwendet werden oder eine Eigenschaft (und keine Zugehörigkeit) ausdrücken, können sie Vergleichsformen bilden:

  • Die Strasse ist lebloser als gestern
  • Gestern habe ich die fruchtloseste Diskussion überhaupt erlebt
  • Lieblosere Briefe kann wohl keiner schreiben

In dichterischer oder umgangssprachlicher Verwendung ist bei solchen Adjektiven die Steigerung im Komparativ häufig mit einem verstärkenden «noch» oder im direkten Vergleich mit dem Positiv anzutreffen:

  • Noch schamloser kann man sich nicht verhalten
  • Die Idee war wirkungsloser als wirkungslos

So gesehen lautet die Antwort auf ihre Frage: Ja, lustlos kann im obigen Sinne gesteigert werden.

Es gibt Dutzende Adjektive auf -los, eine Auswahl:

ahnungslos, alternativlos, anstandslos, arbeitslos, arglos, atemlos, bargeldlos, bartlos, baumlos, bedingungslos, besitzlos, bewusstlos, bodenlos, brotlos, chancenlos, diskussionslos, disziplinlos, drahtlos, ehrfurchtslos, einfallslos, empfindungslos, ergebnislos, erwerbslos, faltenlos, fassungslos, fleischlos, folgenlos, fraglos, fristlos, fruchtlos, furchtlos, gefühllos, gehörlos, gesetzlos, geschichtslos, gesichtslos, gesinnungslos, gewaltlos, grenzenlos, grundlos, grusslos, haarlos, haltlos, heillos, heimatlos, hemmungslos, herrenlos, herrschaftslos, hirnlos, hoffnungslos, humorlos, ideenlos, inhaltslos, interesselos, kampflos, kernlos, kinderlos, klaglos, kopflos, kraftlos, lautlos, leblos, leidenschaftslos, lieblos, lustlos, machtlos, masslos, mittellos, mutlos, mutterlos, nahtlos, namenlos, neidlos, nutzlos, obdachlos, orientierungslos, papierlos, phantasielos, pietätlos, planungslos, problemlos, randlos, rastlos, ratlos, regungslos, reibungslos, respektlos, restlos, rettungslos, richtungslos, ruchlos, rücksichtslos, ruhelos, ruhmlos, saftlos, salzlos, schadlos, schamlos, schlaflos, schlauchlos, schnurlos, schuldlos, schutzlos, seelenlos, selbstlos, sinnlos, sorgenlos, sorglos, spannungslos, spurlos, staatenlos, steuerlos, stillos, stimmlos, straflos, taktlos, tatenlos, torlos, traumlos, treulos, trostlos, tugendlos, übergangslos, uferlos, umstandslos, vaterlandslos, vaterlos, vegetationslos, verantwortungslos, vertrag[s]los, voraussetzungslos, vorbehaltlos, wahllos, wehrlos, wertlos, willenlos, wirkungslos, witzlos, wortlos, würdelos, zahllos, zahnlos, zeitlos, ziellos, zwanglos, zwecklos.

Ausserdem können jederzeit solche Adjektive gebildet werden, die (noch) nicht im Duden aufgeführt sind: z. B. astlos, geheimnislos, kurvenlos, rahmenlos, schwerkraftlos, stromlos, schraubenlos, sauerstofflos, unterschriftslos, verlustlos usw.

Von diesen können die meisten ihres konkreten Inhaltes wegen nicht gesteigert werden.

Das Problem der Nichtsteigerbarkeit betrifft auch andere absoluten Adjektive, wie solche, die Eigenschaften im Sinne von unveränderlichen Qualitäten bezeichnen (einzig, endgültig, schriftlich, mündlich, viereckig, leblos, rund, sterblich usw.) oder die bereits einen höchsten oder geringsten Grad bezeichnen (erstklassig, entgegengesetzt, hauptsächlich, voll, vollendet, privat, individuell, extrem, maximal, minimal, total, universal, optimal usw.).

Literatur:
Duden: Richtiges und gutes Deutsch, 7. Aufl. Mannheim 2011
Canoo.net: Adjektive ohne Steigerungsformen
Ulrich C. Mattmüller: Deutsche Grammatik 2.0

Horst Haider Munske: Ausgewählte sprachwissenschaftliche Schriften (1970‒2015)

Herausgegeben von Jinhee Lee, Fau University Press, Erlangen 2015, ISBN 978-3-944057-28-6

Horst Haider Munske war Mitglied der Reformkommission und trat aus, als er sah, was da angerichtet wurde. Er hatte einen Auftritt bei der ersten Versammlung der SOK. In seinen ausgewählten Schriften ist ein ganzer Abschnitt der Orthographie und der Reform gewidmet.

Universitätsbibliothek Erlangen-Nürnberg