1. Auflage 2010
Redaktion
Schweizer Orthographische Konferenz (SOK)
Sekretariat SOK
Länggassstrasse 7
3012 Bern
Druck und Versand
Sprachkreis Deutsch (SKD)
Beratung
Schweizer Sprachberatung (SSB)
© SOK 2010
Zum Geleit
Vierzehn Jahre Reform der Rechtschreibung und Reformen dieser Reform – und trotz aller Kritik steht im neuesten Schweizer Schülerduden (2006), dass ein wohlbekannter Schriftsteller dasselbe sei wie ein wohl bekannter Schriftsteller und dass ein Kleid in gräulichem Blau nicht unterschieden werden darf von einem gräulichen (herkömmlich: greulichen) Verbrechen. Das sind nur zwei Hinweise auf die Fehlerhaftigkeit, an der die sogenannte neue Rechtschreibung immer noch leidet.
Diese Handreichung will Abhilfe schaffen. Sie richtet sich insbesondere an die Schreibenden in Presse und Verlagen, Staatskanzleien und Bildungsinstitutionen – und überhaupt an alle, die die deutsche Standardsprache lieben. Die Schweizer Orthographische Konferenz möchte damit einen Weg aus den hauptsächlichen Unsicherheiten der deutschen Rechtschreibung seit der Reform von 1996 und den Rückbauetappen von 2000, 2004 und 2006 aufzeigen, damit die deutsche Sprache möglichst rasch aus dem gegenwärtigen Rechtschreibchaos herausfindet.
Die SOK ist eine Vereinigung von Sprachwissenschaftlern und Praktikern der Presse und der Verlage. Sie bemüht sich in ihren Empfehlungen um eine Rechtschreibung, die den langfristigen Tendenzen der deutschen Sprache Rechnung trägt, ein kohärentes Ganzes bildet und im beruflichen, schulischen und privaten Alltag praktisch anwendbar ist.
Die Konferenz der Chefredaktoren empfiehlt ihren Deutschschweizer Mitgliedern, im Interesse einer lesefreundlichen, sprachrichtigen und einheitlichen Rechtschreibung die Vorschläge der SOK umzusetzen. Diese Empfehlung erfolgt übereinstimmend mit dem Verband der Schweizer Presse (VSP) und koordiniert mit der Schweizerischen Depeschenagentur (SDA).
Der vorliegende Wegweiser, in dem die Probleme in vier kurze Kapitel gefasst sind, beruht auf den von der Arbeitsgruppe der SOK ausgearbeiteten Empfehlungen. Sie enthalten reichhaltige Wörterlisten, die elektronisch durchsuchbar sind. Mitglieder können sie sich sogar als Excel-Dateien herunterladen. Die SOK dankt dem Sprachkreis Deutsch für seine nachhaltige Unterstützung.
Weitere gedruckte Exemplare dieses Wegweisers können bei der SOK bezogen werden (siehe Impressum). Ausserdem können PDF-Dateien heruntergeladen werden, eine in normaler Abfolge (A4 quer) und eine so ausgeschossen, dass sich die vier Blätter, beidseitig (Vorderseite / Rückseite) bedruckt, heften lassen.
Oktober 2010
1. Worum geht es?
1996 hat eine Reform, publiziert im damaligen Leitwörterbuch Duden, ferner im Wahrig und in weiteren Wörterbüchern, in einigen Gebieten der deutschen Rechtschreibung Neuerungen eingeführt mit dem Anspruch, das Schreiben zu erleichtern. Die allermeisten dieser Neuerungen haben keine Akzeptanz gefunden. Einige sind inzwischen zurückgenommen worden, ohne dass dies aber genügend deutlich gemacht wurde. In vielen Fällen ist die herkömmliche Schreibung (d. h. diejenige vor 1996) als sogenannte Variante inzwischen wieder erlaubt. Die zwei verbreitetsten Wörterbücher gehen mit dieser Situation völlig verschieden um: Duden favorisiert meist die Reformschreibungen, Wahrig nicht. Und der allerneueste Duden (2009) verzichtet im Bestreben, möglichst vielen „seiner“ Reformschreibungen doch noch zum Durchbruch zu verhelfen, sogar darauf, diese wie bisher rot zu markieren, obwohl die herkömmlichen Schreibungen in den Printmedien und sogar auf dem Internet bis heute eindeutig beliebter sind. Besonders stossend ist, dass der „Schweizer Schülerduden“ (2006) viele herkömmliche Schreibungen verschweigt und sogar eindeutig erfolglose Reformschreibungen noch als allein richtig propagiert, und die Tatsache, dass auch der neueste von der Schweizerischen Bundeskanzlei herausgegebene „Leitfaden zur deutschen Rechtschreibung“ (2008) noch einseitig der Reform verpflichtet ist, ist der Sache der Rechtschreibung in der Schweiz ebenfalls nicht förderlich (siehe zu beiden Werken den Anhang).
Zahlreiche Printmedien und Nachrichtenagenturen haben sich inzwischen Hausorthographien geschaffen. Viele Individuen, privatwirtschaftliche und staatliche Stellen sowie (auf Weisung der Erziehungsdirektionen bzw. -departemente) die Schulen der Schweiz folgen gewohnheitsmässig dem Duden, obwohl dieser sein wohlerworbenes Monopol als Beobachter und behutsamer Lenker der deutschen Rechtschreibung durch seinen radikalen Eingriff von 1996 auf einen Schlag verloren hat und seither einseitig reformfreudig ausgerichtet ist. An seiner Stelle überwacht die Entwicklung heute ein 2004 eingesetzter Rat für deutsche Rechtschreibung. Es ist abzusehen, dass dieser weitere herkömmliche Schreibungen wieder einsetzen wird. Er kommt in seiner Arbeit aber aus verschiedenen Gründen nur langsam voran. 2006 hat er eine amtliche Regelung vorgelegt (hier: R06), die einige der durch die Reform geschaffenen Probleme neu aufrollt. Manches wurde dabei korrigiert, d. h. zurückgenommen. Die „Lösung“ jedoch, die er für die meisten Fälle gefunden hat, nämlich Varianten zu erlauben, ist ein mutloser Weg des geringsten Widerstandes und hat die Probleme eher verschärft als gelöst.
Am 1. August 2009 ist in den Schweizer Schulen die Übergangsfrist abgelaufen, während deren in einigen Bereichen neben den heute gültigen Schreibungen, die in R06 festgehalten sind, auch noch die herkömmlichen Schreibungen gestattet waren. Prinzipiell muss nun eine Lehrerin zum Beispiel für jedesmal und im nachhinein einen Fehler rechnen, obwohl diese vor 1996 über hundert Jahre lang unangefochten üblich und richtig gewesen waren (amtlich gestattet sind heute nur jedes Mal und im Nachhinein). Das will niemand, und diese auch rechtlich höchst bedenkliche Situation muss entschärft werden.
Die SOK hat deshalb in den von der Reform betroffenen Bereichen Empfehlungen ausgearbeitet, die speziell für Presse und Literatur als branchenweite Hausorthographie dienen und gleichzeitig für alle Nicht-Spezialisten einen Ausweg aus der Verunsicherung bringen sollen, die mit der Reform Einzug gehalten hat. Sie folgt im ganzen der amtlichen Rechtschreibung (R06), bemüht sich jedoch, die Variantenflut wieder einzudämmen. Zu diesem Zweck empfiehlt sie als erste, pragmatische Massnahme, den Grundsatz „Bei Varianten die herkömmliche“ einzuhalten. Das heisst, sie empfiehlt, die herkömmliche Variante zu verwenden, wenn sie sich unter den heute gestatteten Varianten findet, und zwar aus der Erkenntnis heraus, dass die herkömmlichen Schreibungen auch nach vierzehn Jahren Reform noch immer häufiger sind als die Reformschreibungen, z. B. aufwendig, ohne weiteres, selbständig, nicht die reformierten Varianten aufwändig, ohne Weiteres, selbstständig. Wo dieser Grundsatz zu keinem eindeutigen Resultat führt oder der R06 aus anderen Gründen nicht gefolgt werden soll, gibt die SOK gezielte Empfehlungen ab. Zur ersteren Kategorie gehören einerseits die Fälle, in denen mehrere Varianten in R06 mit mehreren herkömmlichen Varianten übereinstimmen, wie anstelle / an Stelle, aufgrund / auf Grund, andererseits diejenigen, in denen die Varianten in R06 mit keiner herkömmlichen Schreibung übereinstimmen, wie auf seiten (herkömml.) / aufseiten oder auf Seiten (R06), Cash-flow (herkömml.) / Cashflow oder Cash-Flow (R06); in diesen Fällen empfiehlt die SOK mit der Reform die Zusammenschreibung. In den Fällen, wo sich die Schreibung seit längerem in einem Übergangsstadium befindet, empfiehlt die SOK die herkömmliche Schreibung (z. B. zu Hause, mit Hilfe) oder verzichtet auf eine Empfehlung (z. B. Potential / Potenzial, Albtraum / Alptraum, siehe 4.c.). Die Empfehlungen richten sich nach den herkömmlichen, bewährten Grundsätzen der Sprachrichtigkeit und Konsistenz.
Zum Schutz der Schülerinnen und Schüler und der Lehrkräfte empfiehlt die SOK dem gesamten Bildungssektor, in den von der Reform tangierten Bereichen vorderhand keine Fehler zu berechnen. Sie ruft insbesondere dazu auf, auf einseitige Propagierung der Reformschreibungen zu verzichten und darauf zu achten, dass die wieder zurückgenommenen Reformschreibungen, z. B. es tut mir Leid (gültig 1996–2006), künftig in Lehrmitteln strikte vermieden werden (siehe dazu auch den Anhang).
Die SOK ist überzeugt, dass nach einem fairen „Neustart“ und der Rückkehr zur bewährten Methode, die Praxis zu beobachten und sie, behutsam und auf langfristige Tendenzen Rücksicht nehmend, zu steuern, die unbefriedigende Variantenschwemme innert einiger Jahre überwunden und wieder eine für Schule, Verwaltung, Medien und den Schriftalltag der Bevölkerung gleichermassen gültige einheitliche deutsche Rechtschreibung erreicht werden kann.
Die Reform hat zahlreiche zusammengesetzte Wörter der deutschen Sprache aufgetrennt, das heisst de facto abgeschafft. Dadurch hat sie nicht nur in den Wortschatz der Sprache eingegriffen, was niemals Aufgabe einer Rechtschreibreform sein kann, sondern auch einer langfristigen Tendenz der deutschen Rechtschreibung zuwidergehandelt, die in Richtung Zusammenschreibung eines zusammengesetzten Begriffs geht, wenn dieser bezüglich Aussprache und Bedeutung als ein einziges Wort empfunden wird (sog. „Univerbierung“). Mit R06 sind von den aufgehobenen Zusammenschreibungen viele wieder gestattet, aber nur als Variante. In diesen Fällen empfiehlt die SOK ausnahmslos die herkömmliche Zusammenschreibung:
- achtgeben, haltmachen, masshalten (nicht: Acht geben usw.)
- hochachten, kleinschneiden, fertigstellen (nicht: hoch achten usw.)
- kennenlernen, bekanntgeben (nicht: kennen lernen usw.)
- alleinerziehend, allgemeinbildend (nicht: allein erziehend usw.)
- grauenerregend, zeitraubend (nicht: Grauen erregend usw.)
- sogenannt (Abk.: sog.), langgestreckt, selbstgebacken (nicht: so genannt usw.)
- hierzulande, zuleide (nicht: hier zu Lande, zu Leide)
- imstande, zustande, zugrunde (nicht: im Stande usw.).
Überdies empfiehlt die SOK, in den Fällen, in denen in herkömmlicher Schreibung die zusammen- und getrennt geschriebene Version verschiedene Bedeutung haben und somit gar keine Varianten sind (wie R06 in vielen Fällen behauptet), mit Rücksicht auf die Leser die Bedeutungsdifferenzierung weiterhin – bzw. wieder – zu machen:
- wohl bekannt, wohl durchdacht (mit wohl = wahrscheinlich), aber wohlbekannt, wohldurchdacht (mit wohl = gut), weit gereist, aber weitgereist, frisch gebacken, aber frischgebacken usw.
- ein nahe liegendes Gehöft, aber ein naheliegender Gedanke, Fleisch fressend, aber fleischfressend, viel versprechend, aber vielversprechend usw.
- eine Hand voll Kirschen, aber eine Handvoll (ein Häufchen) Kirschen, Zuschauer usw.
Bei zusammengesetzten Verben ist in R06 die Schreibweise bei übertragener bzw. wörtlicher Bedeutung in nicht nachvollziehbarer Weise teils vorgeschrieben, teils freigegeben. Beide vorgeschrieben: näherkommen (in engere Beziehung treten), aber näher kommen (in grössere Nähe kommen). Nur „übertragen“ vorgeschrieben: naheliegende (einleuchtende) Gründe, aber eine nahe liegende / naheliegende Ortschaft. Nur „wörtlich“ vorgeschrieben: sitzen bleiben (auf dem Stuhl), aber sitzenbleiben / sitzen bleiben (in der Schule). Die SOK empfiehlt, den Bedeutungsunterschied durch die unterschiedliche Schreibweise in der herkömmlichen Weise kenntlich zu machen, d. h. „wörtlich“ getrennt und „übertragen“ zusammenzuschreiben.
Die SOK empfiehlt weiter Zusammenschreibung in den folgenden Fällen:
- jedesmal
- In den Fällen zurzeit, stattdessen, umso, irgendetwas, irgendjemand (wie schon herkömmlich irgendeine usw.) folgt die SOK der Reform, die – entgegen ihrer sonstigen Stossrichtung, zusammengesetzte Wörter aufzutrennen – in diesen Fällen über die herkömmliche Zusammenschreibung sogar noch hinausgegangen ist.
Die SOK empfiehlt gemäss dem Grundsatz „Bei Varianten die herkömmliche“ die Zusammenschreibung nicht bei blank putzen, arm machen usw., bei darüber hinausgehend, spielen/sprechen/platzen lassen usw. und auch nicht bei in Frage stellen, mit Hilfe, zu Hause, nach Hause, so dass.
3. Gross oder klein?
Die zweite langfristige Tendenz der deutschen Rechtschreibung im 20. Jahrhundert zielte in Richtung Kleinschreibung überall dort, wo kein wirkliches Substantiv vorliegt, insbesondere bei Pronomen und Adverbien. Die Reform hat in zahlreichen Fällen die im frühen 20. Jahrhundert aufgegebene Grossschreibung wieder eingeführt und damit dieser Tendenz zuwidergehandelt.
Inzwischen ist aber auch die herkömmliche Kleinschreibung wieder gestattet bei:
- recht haben/behalten/geben.
Ja, in einigen Fällen ist die Reformgrossschreibung sogar wieder ganz abgeschafft, nämlich:
- zu eigen machen, jmdm. feind sein, spinnefeind sein, freund sein
- es tut mir leid, es tut not (in der „Kontaktstellung“ empfiehlt die SOK mit R06 die Zusammenschreibung: leidtun, nottun, es hat notgetan, obwohl es mir leidtat).
In einigen Fällen war die Kleinschreibung zwar nie ganz abgeschafft, Duden propagiert aber beharrlich die Grossschreibung; Wahrig dagegen empfiehlt in den meisten Fällen wieder die Kleinschreibung:
- nicht im mindesten, aufs äusserste gespannt
- von neuem, seit längerem, binnen kurzem, ohne weiteres
- du sagen, nein sagen.
Nach dem Grundsatz „Bei Varianten die herkömmliche“ empfiehlt die SOK in allen diesen Fällen die herkömmliche Kleinschreibung.
Statt der uneinheitlichen und komplizierten R06 (ein bisschen, vor allem, der Erstere, der eine/Eine, der andere/Andere, zu eigen machen, sein Eigen nennen, im übrigen, bei Weitem/weitem, im Weiteren, ohne Weiteres/weiteres, aufs Beste/beste, zum Vornherein, von vornherein) empfiehlt die SOK auch in folgenden Fällen die herkömmliche, durchgängige Kleinschreibung:
- der erstere, der letztere, das wenigste, das folgende, folgendes, verschiedenes, ähnliches (Abk.: o. ä.), alles mögliche, sein ein und alles, sein eigen nennen
- jung und alt, arm und reich, gross und klein, gleich und gleich (gesellt sich gern)
- der erste (der Gäste), der nächste, der erste beste, die vielen, kein einziger, jeder beliebige
- im übrigen, im folgenden, im allgemeinen, im voraus, im weiteren, des weiteren, des öfteren, im nachhinein, im besonderen, im grossen und ganzen, im wesentlichen, wobei bei besonderer Bedeutung natürlich auch Grossschreibung möglich ist, z. B. in Sätzen wie: Ich suche im Allgemeinen das Besondere oder der Politiker blieb im Allgemeinen.
Die Tageszeiten werden herkömmlich klein geschrieben, die Reform hat nach über hundert Jahren die Grossschreibung wieder eingeführt. In heute morgen ist morgen aber kein Substantiv – auch nicht nach den von der Reform definierten Kriterien (vgl. R06, ß 56 und 57). Überdies können Substantive im Deutschen nicht durch Adverbien (wie heute, gestern usw.) näher bestimmt werden, wohl aber Adverbien, und um solche handelt es sich eben. Die zurzeit gültige Regelung (R06), dass zwar früh z. B. in morgen früh klein geschrieben werden kann, alle anderen Tageszeiten aber gross geschrieben werden müssen, ist somit grammatisch falsch und zudem unsinnig. Die SOK empfiehlt die herkömmliche Kleinschreibung, z. B. gestern abend.
Bei lateinischen substantivischen Ausdrücken empfiehlt die SOK die herkömmliche praktische Regel, das erste Wort gross und die folgenden klein zu schreiben: Corpus delicti, Circulus vitiosus. Die Reformregelung (R06) setzt voraus, dass jeder weiss (oder lernt), ob das zweite Wort im Latein ein Substantiv ist oder nicht: Corpus Delicti, aber Circulus vitiosus.
Bei Verben wie achtgeben (siehe 2.) empfiehlt die SOK die herkömmliche, durchgehende Kleinschreibung: achtgeben, er gibt acht, er hat achtgegeben, ausser acht lassen, sich in acht nehmen (ausser natürlich Acht sei näher bestimmt: allergrösste Acht geben, etwas ausser aller Acht lassen). Die R06 ist unzweckmässig: Acht geben / achtgeben; aber nur: sehr achtgeben, ausser Acht lassen, sich in Acht nehmen.
4. Die übrigen Reformbereiche
a. e/ä-Schreibung
Hier herrscht seit Jahrhunderten eine mittels Regeln nicht schlüssig fassbare Situation (vgl. denken, aber tränken). Die punktuellen Eingriffe der Reform haben daran nichts ändern können.
Die SOK empfiehlt Bändel (schweiz.), behende, Gemse, Stengel, Greuel, Wächte. Zurzeit gelten nur Bändel, behände, Stängel, Gämse, Gräuel und Wechte als richtig.
Die Reform hat das Adjektiv greulich abgeschafft (deshalb musste auch Greuel geändert werden). Zurzeit ist nur noch gräulich gestattet. Die SOK empfiehlt, Rücksicht auf die Leser zu nehmen und, wie herkömmlich, zwischen greulich (grauenerregend) und gräulich (fast grau) zu unterscheiden.
Sie empfiehlt auch die herkömmlichen Schreibungen einbleuen, schneuzen, überschwenglich, belemmert und Quentchen statt der heute vorgeschriebenen Reformschreibungen mit ä.
In den Fällen Zierat und Tolpatsch hat die Reform mit ihren neugeschaffenen Schreibungen Zierrat und Tollpatsch falschen etymologischen Deutungen Vorschub geleistet. Dies war besonders unnötig, und die SOK empfiehlt die etymologisch korrekten, herkömmlichen Schreibungen. In diese Kategorie fallen im übrigen auch die genannten ä-Schreibungen von einbleuen, das nichts mit blau, belemmert, das nichts mit Lamm, und Quentchen, das nichts mit Quantum zu tun hat.
Desgleichen empfiehlt die SOK die besser verankerten herkömmlichen Schreibungen numerieren und plazieren (ersteres ist nicht von Nummer, letzteres nicht von Platz abgeleitet, sondern sie sind mit einfachem Konsonanten aus anderen Sprachen übernommen worden).
Wie schon bei Zierat, Tolpatsch, numerieren und plazieren (siehe b.) sieht die SOK nicht ein, warum jetzt und in Zukunft mehr Buchstaben geschrieben werden müssen als in herkömmlicher Schreibweise. Sie empfiehlt deshalb die stark verankerten Tip, Step, Stop, As usw. sowie Rauheit, Roheit, Jäheit, Zäheit. Sie folgt der Reform bei Känguru. Bei rauh aber empfiehlt sie die herkömmliche Schreibung (wie roh, zäh, jäh).
Bei Schifffahrt, Brennnessel, Stillleben, helllicht usw. weicht die SOK von diesem ökonomischen Grundsatz ab und empfiehlt aus praktischen Gründen die Dreifachkonsonanten, obwohl die Neuregelung in ästhetischer Hinsicht fragwürdig ist (aus diesem Grund erlaubt R06 bei Nomen einen – von der SOK nicht empfohlenen – Bindestrich: Still-Leben). Bei Glattal folgt die SOK dagegen dem Usus des Kantons Zürich.
Die SOK empfiehlt im weiteren, bei 8fach, das 8fache,ein 17jähriger usw. wie herkömmlich keinen Bindestrich (und damit auch keine Grossschreibung) anzuwenden. Zahlen und Buchstaben tun einander nicht weh; überdies widersprechen Schreibungen wie das 8-Fache dem üblichen Gebrauch des Bindestrichs, denn Fache und fach sind keine eigenständigen, mit anderen zusammensetzbaren Wörter. Die Regelung von R06 ist untauglich: 19-jährig, 32stel, 16fach/16-fach, 90er, 90-mal.
In vielen Einzelfällen lässt R06 auch die herkömmliche Schreibung zu, und die SOK empfiehlt diese nach dem Grundsatz „Bei Varianten die herkömmliche“, z. B. Spaghetti (Spagetti ist ein phonetischer Affront gegenüber dem Tessin und Italien, wo dies [Spadschetti] ausgesprochen werden müsste) und selbständig (die Form selbstständig war seit langem aus dem allgemeinen Sprachgebrauch ausgeschieden; sie widerspricht nicht nur der Schreibökonomie, sondern auch der heute gängigen Aussprache). Beide herkömmlichen Schreibungen sind deutlich häufiger als die von der Reform propagierten.
Schliesslich empfiehlt die SOK, bei Fremdwörtern auf den schweizerischen Usus Rücksicht zu nehmen, was die Regelung 06 zu wenig tut. CommuniquÈ beispielsweise ist die in der Schweiz einzig gebräuchliche Form; in R06 ist sie eliminiert und durch Kommunikee ersetzt worden.
ph/f-Schreibung
In diesem Punkt befindet sich die deutsche Rechtschreibung seit längerer Zeit in einer Übergangsphase. Die SOK empfiehlt, Foto, Fotograf, Grafik, Telefon und Telegraf und deren Ableitungen mit f, alle andern Wörter mit den Stämmen phot(o), phon(o) und graph(o) sowie Delphin dagegen mit ph zu schreiben, also z. B. Fotoalbum, aber Photosynthese. Im Falle von Fantasie/Phantasie empfiehlt sie, je nach Bedeutung in der Schreibweise einen Unterschied zu machen: Fantasie (Musikstück) / Phantasie (Vorstellungskraft).
t oder z, c oder k, b oder p?
Die Schreibungen substantiell/substanziell, Potential/Potenzial, Justitiar/ Justiziar sind ebenfalls im Übergang begriffen. Die SOK gibt hier keine Empfehlung ab, ebenso wenig bei zirka/circa, Disc/Disk oder Albtraum/ Alptraum, wo beide Schreibungen beliebt sind.
a. Die Schule
Oft hört man das Argument, dass Presse und Verlage nicht anders schreiben dürften als die Schule. Die Arbeitsgruppe der SOK hat die wichtigsten Lehrmittel ausgewertet und ist zum Schluss gekommen, dass in ihnen ein Durcheinander herrscht, dem sich die schreibende Öffentlichkeit keinesfalls anschliessen kann und dem sie im Gegenteil Ordnung entgegensetzen muss.
Das Referenzwerk unserer Schulen, der „Schweizer Schülerduden“ (2006), gibt zum einen die Irrtümer weiter, welche R06 immer noch aufweist; so soll ein wohlbekannter Schriftsteller dasselbe sein wie ein wohl bekannter Schriftsteller. Zum andern unterschlägt er, zweifellos um der Reform zum Durchbruch zu verhelfen, viele der herkömmlichen Schreibweisen, welche gemäss R06 richtig sind, z. B. aufs schönste, wiedersehen, kennenlernen. Unterschlagen wird auch der kleine Buchstabe bei Wendungen wie ohne weiteres, obwohl er laut R06 nicht weniger richtig ist als der grosse. In den Hausregeln der Tamedia-Zeitungen heisst es dazu treffend: „Da die Fügungen Präposition + Adjektiv adverbial gebraucht werden, schreiben wir klein“. Auch die NZZ, an deren sorgfältiger Rechtschreibung sich die SOK ausrichtet, schreibt diese Wendungen klein.
Ferner hält der „Schülerduden“ an Reformschreibweisen fest, welche gemäss R06 falsch sind: etwas ist Not (seit 2006 gilt wieder: etwas ist not), jemandem Freund sein (seit 2006 gilt wieder: jemandem freund sein). Einen heute völlig überholten Stand der Neuregelung bietet das „Handbuch Rechtschreiben“ von Horst Sitta und Peter Gallmann (2004). Laut diesem Buch gilt z. B. die Grossschreibung es tut mir Leid, die 2006 wieder abgeschafft worden ist. Unzuverlässig, da nicht überall auf dem neuesten Stand, sind auch folgende neue Lehrmittel: Das mehrteilige Werk „Welt der Wörter“ (z. B. „Welt der Wörter 2, Arbeitsmaterialien“, 2008), „Die wichtigen Rechtschreibregeln“ (2007) von Thomas Lindauer und Claudia Schmellentin und schliesslich der „Heuer“, alias „Richtiges Deutsch“ von Walter Heuer, in der Bearbeitung von Max Flückiger und Peter Gallmann (2010).
Dr. Roman Looser, Mittelschullehrer und früher Mitglied des Rates für deutsche Rechtschreibung, sagte im August 2009, also nach Ablauf der Korrekturtoleranz, es gelte, gegenüber den älteren (d. h. amtlich zurzeit falschen) Schreibungen Toleranz walten zu lassen. Die SOK unterstützt diese Haltung und empfiehlt, bis die Lage geklärt ist, in allen Bereichen der Reform auf das Bewerten zu verzichten.
b. Die Verwaltung
Die Schweizerische Bundeskanzlei hat 2008 ihren „Leitfaden zur deutschen Rechtschreibung“ vollständig neu bearbeitet herausgegeben. Gegenüber den Fassungen von 1998 und 2000 stellt er eine Verbesserung dar, da die vom Rat für deutsche Rechtschreibung durchgeführten Korrekturen (R06) übernommen worden sind. Er befindet sich aber mit R06 im Irrtum, dass man viele Wörter ohne Bedeutungsunterschied in ihre Teile auftrennen könne: wohlüberlegt / wohl überlegt, eine Handvoll / eine Hand voll, vielsagend / viel sagend. Dazu trifft er willkürliche, unlogische Entscheide: menschenverachtend beispielsweise darf auch Menschen verachtend geschrieben werden, aber frauenverachtend nur so, desgleichen arbeitsuchend auch Arbeit suchend, aber ratsuchend nur so, laubtragend auch Laub tragend, aber fruchttragend nur so.
Die Reform von 1996 und die „Varianten-Politik“ der R06 haben zur Folge, dass heute viele Begriffe unterschiedlich geschrieben werden, was zu Auslegungsproblemen führen kann. Dieser Gefahr begegnet der Leitfaden mit dem bemerkenswerten Satz: „Notfalls – wenn gar kein Weg gangbar erscheint – muss die korrekte Rechtschreibung hinter der Rechtssicherheit zurückstehen“. Was taugt eine Rechtschreibung, die unter Umständen die Rechtssicherheit gefährdet?
c. Die literarischen Verlage
Nach wie vor erscheinen viele Werke, auch Bestseller, in denen die Regeln der Reform nicht angewendet werden, in letzter Zeit z. B. Daniel Kehlmanns Roman „Ruhm“ (2009) und Wulf Kirstens Gedichtanthologie „Beständig ist das leicht Verletzliche“ (2010). Das gilt auch für viele Bücher, die in der Schule gelesen werden: „Der Richter und sein Henker“ von Friedrich Dürrenmatt, Stefan Zweigs „Sternstunden der Menschheit“ oder „Das Parfum“ von Patrick Süskind.
Die Autorinnen und Autoren Österreichs haben vertraglich erreicht, dass vom 1. Januar 2010 an ihre Texte sogar in Schulbüchern nicht an die amtlich verordnete Rechtschreibung angepasst werden dürfen. Dieser Vertrag wird mit Sicherheit Auswirkungen auf Deutschland und die Schweiz haben.